Am Thema Literaturpreise kann man sich erhitzen. Noch mehr am Thema Literaturpreise an Ostdeutsche. Was auf keinen Fall stimmt, ist die Unterstellung, dass überwiegend die „richtige“ Haltung gefeiert wird und Flucht-, Opfer-, Widerstandsgeschichten hoch im Kurs stehen würden.

Beim Bachmannpreis 2020 an Helga Schubert schwang schon ein wenig Wiedergutmachung für eine 40 Jahre zuvor von den DDR-Behörden verbotene Teilnahme mit, aber er besaß auch eine berechtigte literarische Begründung. Vielleicht der Erich-Loest-Preis an Ines Geipel nicht.

Lutz Seilers Büchner-Preis lobt keine Flucht-, Opfer- und Widerstandsgeschichten, die sein Roman „Kruso“ gleichwohl erzählt, aber als Literatur von höchsten Graden. Genauso wie die formstarke Lyrik von Andreas Reimann aus Sachsen, die endlich gewürdigt wurde, mit dem sächsischen Lessing-Preis. Und der großartige Dichter und Prosaist Thomas Kunst aus Leipzig bekam im November im Abstand einer Woche zwei große Literaturpreise: den Erich-Fried- und den Kleist-Preis. Als wollte man ihm für jahrzehntelanges Verkennen Abbitte leisten.

Und im Rückblick: Von 1986 bis 1990 ging der Bachmann-Preis in Serie an die Ostdeutschen Katja Lange-Müller, Uwe Saeger, Angela Krauß, Wolfgang Hilbig und Birgit Vanderbeke und 1993 noch nachgereicht an Kurt Drawert. Die Sache mit den Preisen ist schwieriger und soll den Leser nicht mit Namedropping erschöpfen. Müsste man aber, denn beim Georg-Büchner-Preis, der Krone der deutschen Literaturpreise, waren die Ostdeutschen auch gut dabei: von Christa Wolf bis Wolfgang Hilbig, von Sarah Kirsch bis Volker Braun. Heiner Müller, Durs Grünbein und Reinhard Jirgl noch dazu und heuer Lutz Seiler.

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Vielleicht war es schon seit den 80er-Jahren der Versuch von Jurys, kritischen Autoren in der DDR mit einem großen Literaturpreis Schutz zu geben vor staatlichem Druck und die fehlende Anerkennung im eigenen Land auszugleichen. Deshalb gingen im Einwohnervergleich wahrscheinlich mehr Preise in den Osten als in Westdeutschland blieben.

Trotzdem ist was dran, was kürzlich Anja Reich in dieser Zeitung zum Thema Literaturpreise geschrieben hat. Vor allem, was sie über die Jurys und ihre Zusammensetzung geschrieben hat: „Zur Jury des Deutschen Buchpreises, der in Kürze in Frankfurt am Main verliehen wird, gehören sechs Westdeutsche und ein Ostdeutscher, der 1986 im Alter von 14 Jahren mit seiner Familie in den Westen ausgereist ist.“

Deshalb darf man sich schon freuen, wenn auf der Longlist in diesem Jahr drei von 20 Büchern über den Osten standen. Ist aber auch nicht so außergewöhnlich, denn es entspricht lediglich dem Anteil der Ostdeutschen an der Gesamtbevölkerung.

Eine andere, ebenfalls ausschließlich westdeutsch zusammengesetzte Jury hatte Jenny Erpenbecks Roman „Kairos“ und seine Qualitäten für die Erklärung von ostdeutschen Schicksalen 2022 nicht erkannt. „Kairos“ kam weder beim Deutschen noch beim Leipziger Buchpreis unter die Kandidaten. Danach erhielt Frau Erpenbeck zwei Literaturpreise von Jurys, in denen ostdeutsche Literaturkritiker nicht nur am Rande vertreten sind: beim Uwe-Johnson-Preis, entschieden in Neubrandenburg, und beim Stefan-Heym-Preis in Chemnitz.

„Kairos“ erzählt zwar (nicht zwar, nein, Gott sei Dank!) eine Liebesgeschichte zwischen Hans und der 34 Jahre jüngeren Katharina. Dass der Roman damit unterschiedlichen Prägungen von Menschen nachgeht, denen aus der Gründergeneration und denen, die der DDR überdrüssig waren, ist an den Juroren vorbeigegangen, nicht das Schicksal der nonbinären Erzählerfigur in Kim de l’Horizons mit dem Deutschen Buchpreis gewürdigten Roman „Blutbuch“ (im „Kairos“-Jahr). Ich verteidige „Blutbuch“ wegen seiner sprachlichen Extravaganz ausdrücklich, nur die beiden so unvergleichlichen Bücher nebeneinandergelegt lässt schmunzeln.

Für Juroren ist es das Berufsbild: Der eine sieht es so, der andere anders. Das gilt erst recht für Juroren mit altbundesdeutscher Herkunft, die an den Schalthebeln vermutlich sämtlicher großen deutschen Literaturpreise sitzen.

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Was bleibt, ist dieser Vorwurf der unentschuldbaren Einseitigkeit. Keinesfalls unterläuft ihnen eine Ausgrenzung ostdeutscher Autorinnen und Autoren oder die Parteinahme für jene, die der DDR in ihren Romanen alles anhängen: Stasi, Jugendwerkhof und NSU. An der Vergabe der Preise – bildet man aus der Ost- West-Verteilung einen statistischen Durchschnittswert – lässt sich vermutlich kein Protest aufhängen.

Der Streit des Westens mit dem Osten über Literatur begann bereits, bevor die Mauer gefallen war. 1987 hat Marcel Reich-Ranicki in einer an Schärfe kaum zu überbietenden Art und Weise Christa Wolf attackiert. Ihre Laudatio zur Verleihung des Kleist-Preises an Thomas Brasch bot ihm Anlass.

Dass eine bekennende Ost-Autorin sich anmaßte, über einen Schriftsteller zu sprechen, der die DDR nicht freiwillig verlassen hatte, sah Reich-Ranicki als letzten Beweis für ihr Taktieren an. Wie könne eine solche Person „eine gesamtdeutsche Mahnerin“ sein, fragte er in der FAZ vom 12. November 1987. Reich-Ranicki, ein Mann mit großen Verdiensten um die Literaturkritik, war zur Gesinnungskritik übergegangen.

Abwertung von Ex-DDR-Autoren auf der einen Seite, das Füllhorn mit den Literaturpreisen auf der anderen – zusammen schwer zu erklären, und außerdem sind es olle Kamellen. Hm. Meinen Sie? Ich habe Schriftsteller aus dem Osten nach ihren Wahrnehmungen vom Riss im deutschen Literaturland befragt. Sind die Literaturverhältnisse in Ost und West nach 33 Jahren vereint?

Feuilleton ist ein oft wiederkehrendes Reizwort. Es ist für Bücher ein wichtiger Produktbeschleuniger – und es fällt für Ost-Autoren weitgehend aus. Darauf kommen in ihren Antworten Kerstin Hensel, Reinhard Kuhnert und Ingo Schulze zu sprechen. Hensel bietet eine Erklärung: „Auffällig ist, dass in der Literaturkritik, im Feuilleton, keine oder kaum ostdeutsche Kritiker vertreten sind. Das halte ich wirklich für ein Problem.“

Der Romanautor, Stückeschreiber und Liedermacher Reinhard Kuhnert (Jahrgang 1945, geboren in Berlin, zuletzt veröffentlicht: „In fremder Nähe“, Roman) auf die Frage, ob er eine Teilung der deutschen Literaturszene wahrnehme: „Für mich ist sie noch immer geteilt, nicht zuletzt durch das Desinteresse des großen westdeutschen Feuilletons an Publikationen (meist kleiner) ostdeutscher Verlage, was auch die Ablehnung westdeutscher Buchhandlungen von Lesungen dieser Autoren zur Folge hat. Es gilt also noch immer: Der Ostdeutsche – dein unbekannter Nachbar.“

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Michael G. Fritz aus Sachsen (Jahrgang 1953, lebt in Dresden, zuletzt veröffentlicht: „Auffliegende Papageien“, Roman) hat auch etwas ausgezählt. Die Zahl der Ex-DDR-Schriftsteller, die mit vom Feuilleton geführter Hand in den deutschen Schoß aufgenommen worden sind: „Man braucht von meiner Generation ganz oben nicht mehr Schriftsteller aus dem deutschen Osten als diejenigen, die man aufgebaut hat. Die Namen sind bekannt. Es hängt auch mit dem Markt zusammen, der möglicherweise nicht mehr als die wenigen bekannten verträgt. Sonst müsste der Kuchen noch mehr geteilt werden.“

Ingo Schulze (Jahrgang 1962, geboren in Dresden, lebt in Berlin, zuletzt: „Die rechtschaffenen Mörder“, Roman) stellt zuerst das Gelungene heraus: „Vergleichsweise halte ich die Schriftsteller Ost und West für am besten miteinander verbunden, da gibt es tatsächlich so etwas wie eine Normalität.“ Im Versteck der Normalität lauert die Sünde: „Der Westen wird als Normativ angesehen, der Osten als auf dem Weg dahin oder, das ist auch noch lobend gemeint, als ‚angekommen‘“, schreibt Ingo Schulze. In diesem Problem zeigt sich sage und schreibe im 34. Jahr der deutschen Einheit der tief verinnerlichte Anspruch auf Deutungshoheit des Westens, wie fast immer vertreten vom Feuilleton.

Dirk Oschmann sagt es ganz zu Recht: Der Osten ist eine Erfindung des Westens. Deshalb mag es manchmal so sein, dass Romane aus dem Osten mit Opfer- und Fluchtgeschichten einen Bonus erhalten. Aber als genereller Einwand stimmt es nicht. Dann schon eher die anhaltende West-Ost-schiefe Zusammensetzung der Jurys und der Feuilletonredaktionen. Ingo Schulze steuert seinen Wahrnehmungen noch diese bei: „Als ich bei der Jury zum Deutschen Hörspielpreis die Jurorinnen fragte (fünf Frauen), ob eine davon aus dem Osten sei, war die Empörung groß.“

Schöne und teure und vor allem viele Literaturpreise für Schriftstellerinnen aus dem Osten machen noch kein Einheitsparadies und dürfen nicht verdecken, wo’s mit der deutschen Einheit noch hakt. Es hakt ab der zweiten Autorenreihe gewaltig. Es waren zwei prophetische Sätze von Ulrich Greiner, dem damaligen Feuilletonchef der Wochenzeitung Die Zeit, 1990 in seinem Artikel über Gesinnungsästhetik: „Wer bestimmt, was gewesen ist, der bestimmt auch, was sein wird. Der Streit um die Vergangenheit ist ein Streit um die Zukunft.“

Die großen Erklärer im deutschen Feuilleton haben in den letzten mehr als 30 Jahren wacker bestimmt, was gewesen ist und welche Bücher man lesen sollte. „Wir Ostdeutschen sind für unsere Aufarbeitung selbst zuständig.“ Der Satz stammt vom Gründer und ehemaligen Verleger Christoph Links. Es ist wahrscheinlich das Fazit seines Lebens als Büchermacher in der Zeit der deutschen Einheit.

Wird die Debatte über die Lage der deutschen Einheit in den nächsten Jahren noch oft strapaziert werden? Vermutlich ja. Das Thema vom Osten, und wie er wirklich war, ist bei der nächsten Generation angekommen. Dank der Bücher von Katja Hoyer, Lukas Rietzschel, Tina Pruschmann, Anne Rabe, Charlotte Gneuß, Domenico Müllensiefen und all der anderen, die mir jetzt nicht eingefallen sind, wird der Osten nicht demnächst verstummen. Und es wird wieder Gründe geben, Literaturpreise an ihn zu vergeben.

Was bleibt (gefährliche Frage seit dem Literaturstreit in den frühen 90ern) als Fazit, als These: Die Vergabe von Literaturpreisen an ostdeutsche Autorinnen und Autoren ist es nicht, die immer noch Risse im Literaturland zeigt. Dann schon eher der Wille der Literaturbevollmächtigten, in Jurys und Feuilleton an den Hebeln zu bleiben. Wir sagen, was gut ist. Die Formulierung vom Westen als Norm wäre umzuschreiben. Neu heißt sie: Wir machen die Norm, für uns, für euch, für alle.

Michael Hametner ist Autor des 2021 erschienenen Buches „Deutsche Wechseljahre“, für das er noch weitere ostdeutsche Autoren nach ihrem „Einheits“-Befinden befragt hat.

Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde. Mit Open Source gibt der Berliner Verlag freien Autorinnen und Autoren sowie jedem Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und honoriert.

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Der Westen als Norm: Ost-West-Diskrepanzen bei deutschen Literaturpreisen?

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14.12.2023

Am Thema Literaturpreise kann man sich erhitzen. Noch mehr am Thema Literaturpreise an Ostdeutsche. Was auf keinen Fall stimmt, ist die Unterstellung, dass überwiegend die „richtige“ Haltung gefeiert wird und Flucht-, Opfer-, Widerstandsgeschichten hoch im Kurs stehen würden.

Beim Bachmannpreis 2020 an Helga Schubert schwang schon ein wenig Wiedergutmachung für eine 40 Jahre zuvor von den DDR-Behörden verbotene Teilnahme mit, aber er besaß auch eine berechtigte literarische Begründung. Vielleicht der Erich-Loest-Preis an Ines Geipel nicht.

Lutz Seilers Büchner-Preis lobt keine Flucht-, Opfer- und Widerstandsgeschichten, die sein Roman „Kruso“ gleichwohl erzählt, aber als Literatur von höchsten Graden. Genauso wie die formstarke Lyrik von Andreas Reimann aus Sachsen, die endlich gewürdigt wurde, mit dem sächsischen Lessing-Preis. Und der großartige Dichter und Prosaist Thomas Kunst aus Leipzig bekam im November im Abstand einer Woche zwei große Literaturpreise: den Erich-Fried- und den Kleist-Preis. Als wollte man ihm für jahrzehntelanges Verkennen Abbitte leisten.

Und im Rückblick: Von 1986 bis 1990 ging der Bachmann-Preis in Serie an die Ostdeutschen Katja Lange-Müller, Uwe Saeger, Angela Krauß, Wolfgang Hilbig und Birgit Vanderbeke und 1993 noch nachgereicht an Kurt Drawert. Die Sache mit den Preisen ist schwieriger und soll den Leser nicht mit Namedropping erschöpfen. Müsste man aber, denn beim Georg-Büchner-Preis, der Krone der deutschen Literaturpreise, waren die Ostdeutschen auch gut dabei: von Christa Wolf bis Wolfgang Hilbig, von Sarah Kirsch bis Volker Braun. Heiner Müller, Durs Grünbein und Reinhard Jirgl noch dazu und heuer Lutz Seiler.

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12.12.2023

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12.12.2023

Das besondere ostdeutsche Denken: Bewusstsein für Gerechtigkeit und Kritik

09.12.2023

Austausch der Osteliten: Dirk Oschmann antwortet auf Christoph Heins Nazivergleich

07.12.2023

Vielleicht war es schon seit den 80er-Jahren der Versuch von Jurys, kritischen Autoren in der DDR mit einem großen Literaturpreis Schutz zu geben vor staatlichem Druck und die fehlende Anerkennung im eigenen Land auszugleichen. Deshalb gingen im Einwohnervergleich wahrscheinlich mehr Preise in den Osten als in Westdeutschland blieben.

Trotzdem ist was dran, was kürzlich Anja Reich in dieser Zeitung zum Thema Literaturpreise geschrieben hat. Vor allem, was sie über die Jurys und ihre Zusammensetzung geschrieben hat: „Zur Jury des Deutschen Buchpreises, der in Kürze in Frankfurt am Main verliehen wird, gehören sechs Westdeutsche und ein Ostdeutscher, der 1986 im Alter von 14 Jahren mit seiner Familie in den Westen ausgereist ist.“

Deshalb darf man sich schon freuen, wenn auf der Longlist in diesem Jahr drei von 20 Büchern über den Osten standen. Ist aber auch nicht so außergewöhnlich, denn es entspricht lediglich dem Anteil der Ostdeutschen an der Gesamtbevölkerung.

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