Wir treffen Berlins Justizsenatorin aus Anlass ihres einjährigen Amtsjubiläums im eindrucksvollen Haus der Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz neben dem Schöneberger Rathaus. Das Gebäude wurde 1914 für die Nordstern-Versicherung errichtet, der Geist der selbstbewussten Gründerzeit ist noch zu spüren. Felor Badenberg hat als Migrantenkind eine atemberaubende Karriere hingelegt. Die parteilose Juristin spricht fokussiert. Sie ist selbstkritisch, etwa beim Rückblick auf die Corona-Zeit. Entschlossen ist sie im Kampf gegen die Aktivitäten autokratischer Regime in Deutschland.

Frau Badenberg, Sie sind mit zwölf Jahren aus dem Iran nach Deutschland gekommen. Wie war das?

Es war eine ganz neue Situation für mich, weil ich die deutsche Sprache nicht konnte. Ich saß in der Schule und wusste nicht, worüber der Lehrer und die Mitschüler sprachen. Ich bin damals mit offenen Armen aufgenommen worden. Vor allem von meinem Klassenlehrer: Er ist mittlerweile über 80 Jahre alt, zu ihm habe ich heute noch Kontakt – genau wie zu einigen Klassenkameradinnen und Klassenkameraden.

Haben Sie die Sprache in der Schule gelernt?

Learning by doing, tatsächlich! Mathematik und Englisch waren meine Lieblingsfächer, weil es da nicht auf die Sprache ankam. Mein Klassenlehrer hat mir und meinem Bruder nach der Schule Deutschunterricht gegeben. Er hat uns Lehrbücher gekauft, hat uns Hausaufgaben gegeben. Ich weiß noch, dass wir deklinieren mussten: Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ – ich werde es nie vergessen: „Der Apfel, des Apfels, dem Apfel, den Apfel!“ Das mussten wir auswendig lernen, und am nächsten Tag hat er uns abgefragt.

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Hat Sie das angespornt oder gab es Momente, wo Sie gesagt haben: Wahnsinn, was mache ich hier?

Nein, solche Momente gab es nicht. Ich war ja auch noch ein Kind, da fühlte sich das eher spielerisch an. Wir haben uns schnell zu Hause gefühlt, weil wir sehr herzlich aufgenommen wurden. Ich kann mich an keinen Moment erinnern, in dem wir gesagt haben, wir wollen jetzt wieder weg.

Sie sind ja in die alte Bundesrepublik gekommen, in das Rheinland sogar. Das war ein ganz anderes Land.

Es war noch nicht mal das Rheinland, es war das Münsterland. Wir haben in der Nähe von Münster gelebt, in Rheine. Erst später sind wir nach Köln gezogen. Rheine war sehr schön, es war ein kleines Örtchen. In meiner Klasse waren mein Bruder und ich die einzigen mit Migrationsgeschichte. Die ganze Klasse hat sich um uns beide sehr bemüht.

Also keine Ausländerfeindlichkeit, sondern gelebte Willkommenskultur.

Mit Rassismus oder Diskriminierung habe ich damals keine Erfahrungen gemacht. Das haben wir vor allem unserem Klassenlehrer zu verdanken.

Heute ist die Lage anders. Woher kommt das?

Der Lehrer hatte 1988 in seiner Klasse zwei Kinder, für die er sich besonders engagieren musste. Heute haben wir in Berlin oder anderswo Klassen, in denen ein Großteil der Kinder besondere Unterstützung braucht. Das führt dazu, dass sich die Lehrer nicht mehr kümmern können. Das ist eine Überforderung. Meine Mutter hat immer so schön gesagt: Ich kann nur so viel Gäste zu mir einladen, wie ich auch bewirten kann.

Sie haben dann Jura studiert – warum?

Mein Vater kam aus einer Mediziner-Familie, und er wollte immer, dass ich in seine Fußstapfen trete. Ich sollte Frau Doktor werden und habe dann auch nach dem Abitur ganz kurz an der Universitätsklinik Köln ein Freiwilliges Soziales Jahr gemacht. Da habe ich festgestellt, dass das nichts für mich ist. Ich habe Angst vor Spritzen, kann kein Blut sehen und habe die Schmerzen der Patienten mitgespürt. Das habe ich dann meinem Vater erzählt. Er war enttäuscht, aber ich habe ihm versprochen, dass ich trotzdem Frau Doktor werde. Ich wollte mich damals für Menschenrechte und Gerechtigkeit einsetzen und habe dann mit dem Jura-Studium begonnen.

Spielt da auch Ihre iranische Geschichte eine Rolle?

Ich hatte sehr klare Erinnerungen an den Iran und auch an den Iran-Irak-Krieg. Ich kann mich noch erinnern, wie wir in den Kellerräumen Schutz suchen mussten, weil Teheran bombardiert wurde und wir nicht wussten, ob nicht jeden Moment eine Bombe auf unser Haus fällt. Und ich habe gesehen, wie autokratische Kräfte ein ganzes System sprengen können. Deshalb war es mir wichtig, mich in diesem Bereich zu engagieren.

Sie wollten Richterin werden?

Im Zuge meiner Referendarzeit habe ich eine Station beim Gericht absolviert. Aber nach meinem Examen gab es keine Ausschreibung für Richterstellen in Köln. Ich sah allerdings eine Ausschreibung beim Bundesinnenministerium und seinen Geschäftsbereichsbehörden und bestand das Auswahlverfahren.

Wieso sind Sie zum Verfassungsschutz gegangen?

Ich habe mich damals für den Verfassungsschutz entschieden, weil mich das Thema besonders angesprochen hat. Außerdem war der Verfassungsschutz in Köln, was aus privaten Gründen ein großer Vorteil war.

Was haben Sie sich denn damals unter dem Verfassungsschutz vorgestellt?

Ich fand die Beschreibung sehr ansprechend: Frühwarnsystem, sich für Demokratie und den Rechtsstaat einsetzen, auf extremistische Gefahren hinweisen. Ich hatte aber keine konkrete Vorstellung. Was mir sehr wichtig war, und das hat mich sehr beruhigt, dass der Verfassungsschutz keine polizeilichen Befugnisse hat. Das ist ja ganz anders als in vielen anderen Staaten, vor allem anders als im Iran. Daher hatte ich das gute Gefühl, dass der Verfassungsschutz kein Geheimdienst ist, wie man ihn kennt, der auch Leute festnehmen kann. Sondern es geht um die Informationssammlung für eine Gefahrensituation.

Es war Ihnen also klar, es handelt sich nicht um irgendeine Verwaltungsbehörde, sondern um einen Geheimdienst – der aber ganz anders ist als im Iran?

Auf jeden Fall, vor allem, weil mein Vater völlig entsetzt war. Er hat gesagt, wir kommen aus einem Land, wo die Freiheitsrechte mit Füßen getreten werden, wo Meinungs- und Pressefreiheit überhaupt nicht existieren, und jetzt willst du zu einem Geheimdienst? Deshalb habe ich mich damals sehr intensiv mit den Befugnissen auseinandergesetzt.

Auch die Ostdeutschen sind sehr skeptisch, was Inlandsdienste anlangt. Gibt es für diese Bedenken eine Sensibilität im Verfassungsschutz?

Ein gewisses Misstrauen und Vorbehalte spüre ich immer wieder. Manchmal werde ich gefragt: Sie sind so freundlich und so nett, wie konnten Sie nur bei so einer Institution arbeiten? Ich halte die Verfassungsschutzbehörden in einer Demokratie für eminent wichtig. Es gibt einen engen Katalog an Befugnissen mit klaren Vorgaben. So müssen sie im Vorfeld die Zustimmung einer Kontrollinstanz einholen. Wenn der Verfassungsschutz zum Beispiel ein Telefon überwachen möchte, muss er vorher die Zustimmung der G10-Kommission einholen.

Was ist die G10-Kommission?

Das ist eine unabhängige Kommission des Deutschen Bundestages, die eine Telefonüberwachung im Vorfeld genehmigen muss.

Also kein Gericht?

Nein, die Mitglieder sind aber alle vom Deutschen Bundestag gewählt. Wenn zum Beispiel das Bundesamt für Verfassungsschutz ein Telefon überwachen will, dann muss das Bundesamt über das Bundesinnenministerium einen Antrag an diese Kommission stellen. Dieser wird umfassend geprüft, und schließlich muss der Behördenchef vor der Kommission begründen, warum die Überwachung erforderlich und verhältnismäßig ist. Das ist ein sehr aufwendiges Verfahren, und das ist auch richtig so, weil es ein tiefer Grundrechtseingriff ist.

Für den Außenstehenden ist der Verfassungsschutz schwer durchschaubar. Sie haben ja unter Hans-Georg Maaßen Karriere gemacht.

Das stimmt so nicht ganz. Ich habe in seinem Leitungsbüro gearbeitet. Als ich Vizepräsidentin wurde, war er schon gar nicht mehr da, und auch Abteilungsleiterin wurde ich erst nach seiner Zeit.

Was man als Außenstehender nicht versteht: Da ist einer Chef des Verfassungsschutzes, und plötzlich ist er Verfassungsfeind und wird selbst beobachtet.

Ich bitte um Verständnis, dass ich mich hierzu nicht äußern kann und möchte, auch weil ich weiterhin der Geheimhaltungspflicht unterliege. Und außerdem gebietet es der Anstand, dass man sich über ehemalige Vorgesetzte nicht äußert.

Beim NSU-Skandal war nicht klar, welche Rolle etwa die sogenannten „V-Leute“ gespielt hatten. Was sind denn V-Leute?

V-Leute sind Personen, die nicht den Sicherheitsbehörden oder den Strafverfolgungsbehörden angehören, die aber gegen Geld Informationen liefern.

Also Spitzel – die sich nicht als Informanten zu erkennen geben.

In der Regel sind das Personen, die in der Szene schon verankert sind und die sich dann entweder selbst anbieten oder man spricht sie an, und dann liefern sie Informationen zu bestimmten Fragestellungen. Warum brauchen wir die? Es gibt Situationen, in denen die Sicherheits- und Ermittlungsbehörden bestimmte Informationen ohne V-Leute einfach nicht erhalten, gerade in den Bereichen Terrorismus oder Clankriminalität. Es ist ja nicht so, dass Kriminelle, Extremisten oder Terroristen nicht wissen, dass ein Telefon abgehört werden kann. Oft hört man: Nicht am Telefon, lass uns das persönlich in der Gruppe besprechen. Und wenn die Sicherheits- und Ermittlungsbehörden keinen Zugang zu diesen Gruppen haben, dann haben sie ein Informationsdefizit.

Denken Sie das auch manchmal?

Wenn es beispielsweise um Gewalttaten geht, um körperliche Unversehrtheit, um Kinderpornografie, müssen die Strafverfolgungs- und Sicherheitsbehörden mit den Möglichkeiten ausgestattet sein, ihre Aufgaben zu erfüllen. Entweder sage ich, das Instrument ist verwerflich und wir wollen es nicht einsetzen. Dann muss man aber auch in Kauf nehmen, dass bestimmte Informationslücken nicht geschlossen werden können.

Aber woher weiß man, dass die Informationen stimmen und nicht benutzt werden, um einen anderen zu denunzieren?

Es ist ja nicht so, dass die V-Leute von jetzt auf gleich eingesetzt werden. Dem Einsatz geht eine intensive Prüfung voraus: Ist eine Quelle glaubwürdig? Das ist eine lange Anbahnungsphase. Es sind geschulte Leute bei der Polizei und beim Verfassungsschutz, die in einem Vorverfahren genau überprüfen, wer als V-Mann verpflichtet werden kann, gegen Geld Informationen zu liefern.

Die FDP will eine Begrenzung der Beschäftigung von V-Leuten auf drei Monate, Sie sind dagegen. Warum?

Weil es praxisfern ist. So eine Anbahnungsphase dauert manchmal bis zu mehreren Monaten. Gerade im Bereich Rechtsterrorismus brauchen Sie jemanden, der aus der Szene kommt. Welche Informationen kann jemand liefern? Sie brauchen Menschen aus den einschlägigen Kreisen. Manchmal geht es um gezielte Informationsbeschaffung. Die Anbahnung findet vollkommen konspirativ statt, der Hinweisgeber darf nicht enttarnt werden.

Vor 30 Jahren wussten die meisten Deutschen nicht, dass es einen Verfassungsschutz gibt. Heute warnt der Präsident des Verfassungsschutzes einmal in der Woche vor politischen Gefahren. Hat der Verfassungsschutz heute mehr zu tun als früher?

Die Gefahren für die freiheitlich demokratische Grundordnung zeigen sich heute komplexer und vielseitiger als noch zu Zeiten des Kalten Krieges. Mit dem Internet wirken sich Konflikte in der ganzen Welt unmittelbar auch in Deutschland und damit auf die deutsche Innenpolitik aus. Zum Beispiel der Angriff der Hamas am 7. Oktober: Der Anschlag war noch nicht zu Ende, da haben schon Leute auf den Berliner Straßen getanzt. Die Auswirkungen sind viel schneller spürbar als früher, und das fordert auch die Behörden heraus.

Führen die globalen Extreme dazu, dass der Staat sich sagt, wegen des importierten Extremismus können wir leider die Bürgerrechte nicht mehr sicherstellen?

Der Staat stellt die Bürgerrechte sicher. Aber es ist herausfordernder geworden, das müssen wir uns klarmachen. Früher konnten Extremisten eindeutig zugeordnet werden: Es gab Rechtsextremisten, die trugen Glatze und Springerstiefel. Es gab die rechtsextremistischen Konzerte, die Kampfsportveranstaltungen. Die NPD war der Kopf der rechtsextremen Szene, die hat man dann an bestimmten Ständen erkannt. Dann gab es die Linksextremisten, die hat man am 1. Mai in ganz bestimmten Städten gesehen. Daneben gab es die Islamisten und – grob gesagt – ein paar Spione. Das war’s. Heute haben Sie das Phänomen, das bei bestimmten Krisen alle ein Ziel haben, das sie vereint, nämlich, die Demokratie zu schwächen. Das hat man sehr gut bei den Corona-Demonstrationen gesehen: Das Ziel ist, das System zu schwächen. Sie haben bei den Corona-Demonstrationen Menschen aus der rechtsextremistischen Szene gehabt, klar sichtbar, Teile der AfD, neonazistische Parteien, Teile aus der linksextremistischen Szene, türkische Nationalisten. Die sind alle gemeinsam gegen den Staat marschiert.

Wäre es nicht Aufgabe des Staats gewesen, das Demonstrationsrecht derer zu schützen, die legitim gegen die Maßnahmen demonstriert haben? Deren Anliegen wurden ja durch die Präsenz der Extremisten diskreditiert. Heute braucht sich nur einer bei einer Demo hinten mit der Reichskriegsflagge hinstellen, und schon ist es eine rechtsextreme Demo.

Da bin ich ganz bei Ihnen. Das Demonstrationsrecht ist ein hohes Gut, das uns von totalitären Systemen unterscheidet. Jeder soll auf die Straße gehen und lautstark gegen staatliche Maßnahmen protestieren können. Es gibt aber eine rote Linie, die man nicht überschreiten darf, und das ist die Begehung von Straftaten.

Aber es ist ja keine Straftat, wenn das Compact-Magazin bei einer Demo hinter dir steht. Die waren ja plötzlich da. Müsste der Staat da nicht sagen: Ihr von Compact, geht nach Hause, ihr habt hier nichts verloren!

Ich habe nicht den Eindruck, dass Demonstrationen, die nicht von Rechtsextremen angemeldet wurden, verboten wurden. Ich kann Ihnen eine Zahl nennen, die jene entkräftet, die sagen, der Staat würde das Demonstrationsrecht einschränken. Bei den Palästina-Demos sind es weniger als sechs Prozent in Berlin, die am Ende verboten wurden.

In der Corona-Zeit wurden alle verboten.

Aber nicht zum Zwecke der Einschränkung der Meinungsfreiheit, sondern aus gesundheitlichen Gründen, wegen der angenommenen Ansteckungsgefahr, oder weil man sich nicht an die Auflagen gehalten hat. Die sind nicht verboten worden, weil man gesagt hat, da könnte möglicherweise ein Rechtsextremist oder ein Linksextremist mitlaufen. Die Sicherheitsbehörden haben immer gewarnt, dass Extremisten die Demos kapern könnten. Es gab viele Menschen, überzeugte Demokraten, die auf die Straße gingen und sich unzufrieden zeigten mit der Politik im Umgang mit der Corona-Pandemie. Es gab aber eben auch viele Extremisten. Die Sicherheitsbehörden haben immer darauf geachtet, nicht alle in einen Topf zu werfen.

Dann war das eher ein mediales Phänomen. Sie sagen jedenfalls, in den Sicherheitsbehörden wurde differenziert?

Definitiv! Ich habe das sehr aufmerksam verfolgt, weil es uns ein sehr großes Anliegen war zu sagen, dass die Allermeisten normale Leute waren und nur ein ganz, ganz kleiner Prozentsatz Radikale. Wir hatten ja auch Leute, die auf diesen Demonstrationen mitgegangen sind, um den Sicherheitsbehörden valide Rückmeldungen zu geben.

Also V-Leute?

Ja.

Was war denn das Feedback der V-Leute von den Corona-Demos?

Dass es ein kleiner Prozentsatz von Leuten war, die der extremistischen Szene zuzuordnen sind. Dass die meisten Demokraten sind, die auf die Straße gehen, weil sie unglücklich sind mit der Situation.

Es gab aber schon allgemein diskreditierende Aussagen. Bundespräsident Steinmeier sagte, der Spaziergang habe seine Unschuld verloren. Pauschaler geht es nicht.

Es ist der Kern unseres liberalen Rechtsstaats, dass wir auf die Straße gehen können, brüllen können, uns unglücklich zeigen können. Es darf niemals der Eindruck entstehen, man könne nichts mehr sagen, was kritisch ist.

Sie sind ja Expertin im Thema Rechtsextremismus, haben den Mordfall Walter Lübcke bearbeitet. Wie stark ist der Rechtsextremismus in Berlin?

Das Personenpotenzial steigt in dem Bereich, wo Menschen rechtsextremen Ideologien anhängen – die also Menschen nach der Ethnie in Menschen erster und zweiter Klasse unterteilt, also Rassismus und Diskriminierung verbreiten wollen. Wir haben einerseits die sogenannte „Neue Rechte“, die versuchen, als Möchtegern-Intellektuelle und Brandstifter rechtes Gedankengut in die Mitte der Gesellschaft zu tragen. Und dann haben wir die gewaltorientierte Rechte – die „Rechte“, die „Heimat“ (früher NPD), der „Dritte Weg“, die sind alle bereit, für ihre Positionen Gewalt anzuwenden. Es gibt noch ein anderes Phänomen, das kennen wir eigentlich aus der Islamisten-Szene: sogenannte lone actors, also Einzeltäter, die keiner Organisation angehören, und die sich mit Hilfe des Internets radikalisieren. Deren Identifizierung ist besonders schwer.

Eine andere Gruppe sind die Antisemiten. Es ist etwas ruhiger um die geworden. Es das eine trügerische Ruhe?

Antisemitismus ist ein Bestandteil aller extremistischen Bewegungen. Was überraschend ist, ist die Intensität. Möglicherweise haben wir das Phänomen in den letzten Jahren unterschätzt. Der Alltagsantisemitismus und ganz viele Einzelfälle werden gar nicht mehr zur Anzeige gebracht. Zum einen haben Juden und Jüdinnen Angst vor Racheaktionen, wenn sie Straftaten anzeigen. Zum anderen werden manche Taten nicht ernst genommen. Da wurde zum Beispiel – nicht in Berlin – von einem Polizeibeamten gesagt, wenn da ein David-Stern aufgemalt wurde, dann holen Sie sich doch Terpentin, damit kriegen Sie die Farbe wieder weg. Das dürfen wir nicht hinnehmen. Ich bin daher froh, dass wir nach dem brutalen Massaker der Hamas und dem andauernden Krieg eine 24/7-Erreichbarkeit bei der Staatsanwaltschaft hier in Berlin eingerichtet haben. Damit stellen wir sicher, dass die Polizei schnell bei einem Anfangsverdacht reagieren kann. Ein Krisenstab bei der Staatsanwaltschaft schließt eine Nichtverfolgung wegen Geringfügigkeit aus. Denn Antisemitismus ist niemals geringfügig.

Sehen Sie den Iran als eine Gefahr für den Weltfrieden?

Der Iran hat erstmals Israel unmittelbar angegriffen. Davor hat es nur Stellvertreterkriege gegeben. Ich glaube, dass die deutschen Regierungen in den vergangenen Jahren die zentrale Rolle des Iran in der Region unterschätzt haben. Vor einigen Jahren gab es noch Länder in der Region, die sich gegen den Iran aufgelehnt haben - die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabien. Jetzt hat der Iran Russland, Syrien und China an seiner Seite. Das sind Mächte, die gegen die westlichen Demokratien sind. Wir wissen nicht, was passiert, wenn Trump wieder an die Macht kommt. Der Iran hat seine Rolle über Jahre strategisch aufgebaut. Und jetzt hat der Iran autokratische Mächte als Unterstützer.

Gibt es in Berlin verstärkte chinesische und russische Aktivitäten?

Hier in Berlin sind die Botschaften, hier sitzen einflussreiche Menschen. Wir sehen seit vielen Jahren Aktivitäten Russlands, Chinas, der Türkei und des Iran. Autokratische Staaten versuchen, ihre Oppositionellen auszuspionieren, bedrohen die Familien im Land, sie betreiben Wirtschaftsspionage, und dann bringen sie Leute dazu, Informationen zu sammeln. Die neue Qualität der jüngsten Enthüllungen ist, dass das Ganze in das Innerste der Demokratie eingedrungen ist, in das Parlament.

Wir erleben nämlich nicht nur, dass ausländische Mächte darauf abzielen, Informationen aus Deutschland abzuziehen. Es werden auch zunehmend Informationen nach Deutschland eingesteuert, um Einfluss auf unsere demokratischen Prozesse zu nehmen. Welche Gefahren sich aus einem derartigen Verhalten ergeben können, sehen wir gerade eindrücklich.

Ist das ein spezielles Phänomen in Deutschland?

Im internationalen Kontext beobachten wir derartiges schon länger. Denken Sie an die Beeinflussung des amerikanischen und des französischen Präsidentschaftswahlkampfs. Aber schauen Sie sich die russische Einflussnahme im Vorfeld der letzten Bundestagswahl an. Das sind Angriffe auf unsere Demokratie.

Was sollte geschehen?

Wir müssen darüber sprechen, ob unsere Gesetze Deutschland noch ausreichend vor diesen Gefahren schützen und die Berliner Strafverfolgungsbehörden die rechtlichen Instrumente dafür haben. Das Strafrecht schützt vor Sabotagemaßnahmen aus der Zeit des Kalten Krieges. Heute ist aber nicht mehr nur das Abgreifen von Informationen, sondern auch das Einbringen von Desinformationen und Propaganda gefährlich. Die Sabotage des Meinungsbildungsprozesses muss unter Strafe gestellt werden. Andere Länder, wie beispielsweise Frankreich, haben dies erkannt, und auch die Europäische Kommission hat einen Regelungsvorschlag erarbeitet. Ich sehe hier die Bundesregierung in der Verantwortung, eine entsprechende Regelung vorzulegen. Es geht um nicht weniger als um unsere Demokratie. In einem Staat, in dem die Macht vom Volke in freien Wahlen ausgeübt wird, ist der freie Willensbildungsprozess der erste Angriffspunkt für autokratische Regime.

Wer gewinnt am Ende – die Freiheit oder das Streben nach Sicherheit?

Sowohl als auch. Wir müssen ganz unideologisch einen Ausgleich finden zwischen den Grund- und Freiheitsrechten und dem Bedürfnis nach Sicherheit. Das war immer so, und das ist auch heute möglich.

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Justizsenatorin Badenberg: Sabotage der Demokratie soll Straftat werden

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27.04.2024

Wir treffen Berlins Justizsenatorin aus Anlass ihres einjährigen Amtsjubiläums im eindrucksvollen Haus der Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz neben dem Schöneberger Rathaus. Das Gebäude wurde 1914 für die Nordstern-Versicherung errichtet, der Geist der selbstbewussten Gründerzeit ist noch zu spüren. Felor Badenberg hat als Migrantenkind eine atemberaubende Karriere hingelegt. Die parteilose Juristin spricht fokussiert. Sie ist selbstkritisch, etwa beim Rückblick auf die Corona-Zeit. Entschlossen ist sie im Kampf gegen die Aktivitäten autokratischer Regime in Deutschland.

Frau Badenberg, Sie sind mit zwölf Jahren aus dem Iran nach Deutschland gekommen. Wie war das?

Es war eine ganz neue Situation für mich, weil ich die deutsche Sprache nicht konnte. Ich saß in der Schule und wusste nicht, worüber der Lehrer und die Mitschüler sprachen. Ich bin damals mit offenen Armen aufgenommen worden. Vor allem von meinem Klassenlehrer: Er ist mittlerweile über 80 Jahre alt, zu ihm habe ich heute noch Kontakt – genau wie zu einigen Klassenkameradinnen und Klassenkameraden.

Haben Sie die Sprache in der Schule gelernt?

Learning by doing, tatsächlich! Mathematik und Englisch waren meine Lieblingsfächer, weil es da nicht auf die Sprache ankam. Mein Klassenlehrer hat mir und meinem Bruder nach der Schule Deutschunterricht gegeben. Er hat uns Lehrbücher gekauft, hat uns Hausaufgaben gegeben. Ich weiß noch, dass wir deklinieren mussten: Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ – ich werde es nie vergessen: „Der Apfel, des Apfels, dem Apfel, den Apfel!“ Das mussten wir auswendig lernen, und am nächsten Tag hat er uns abgefragt.

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Hat Sie das angespornt oder gab es Momente, wo Sie gesagt haben: Wahnsinn, was mache ich hier?

Nein, solche Momente gab es nicht. Ich war ja auch noch ein Kind, da fühlte sich das eher spielerisch an. Wir haben uns schnell zu Hause gefühlt, weil wir sehr herzlich aufgenommen wurden. Ich kann mich an keinen Moment erinnern, in dem wir gesagt haben, wir wollen jetzt wieder weg.

Sie sind ja in die alte Bundesrepublik gekommen, in das Rheinland sogar. Das war ein ganz anderes Land.

Es war noch nicht mal das Rheinland, es war das Münsterland. Wir haben in der Nähe von Münster gelebt, in Rheine. Erst später sind wir nach Köln gezogen. Rheine war sehr schön, es war ein kleines Örtchen. In meiner Klasse waren mein Bruder und ich die einzigen mit Migrationsgeschichte. Die ganze Klasse hat sich um uns beide sehr bemüht.

Also keine Ausländerfeindlichkeit, sondern gelebte Willkommenskultur.

Mit Rassismus oder Diskriminierung habe ich damals keine Erfahrungen gemacht. Das haben wir vor allem unserem Klassenlehrer zu verdanken.

Heute ist die Lage anders. Woher kommt das?

Der Lehrer hatte 1988 in seiner Klasse zwei Kinder, für die er sich besonders engagieren musste. Heute haben wir in Berlin oder anderswo Klassen, in denen ein Großteil der Kinder besondere Unterstützung braucht. Das führt dazu, dass sich die Lehrer nicht mehr kümmern können. Das ist eine Überforderung. Meine Mutter hat immer so schön gesagt: Ich kann nur so viel Gäste zu mir einladen, wie ich auch bewirten kann.

Sie haben dann Jura studiert – warum?

Mein Vater kam aus einer Mediziner-Familie, und er wollte immer, dass ich in seine Fußstapfen trete. Ich sollte Frau Doktor werden und habe dann auch nach dem Abitur ganz kurz an der Universitätsklinik Köln ein Freiwilliges Soziales Jahr gemacht. Da habe ich festgestellt, dass das nichts für mich ist. Ich habe Angst vor Spritzen, kann kein Blut sehen und habe die Schmerzen der Patienten mitgespürt. Das habe ich dann meinem Vater erzählt. Er war enttäuscht, aber ich habe ihm versprochen, dass ich trotzdem Frau Doktor werde. Ich wollte mich damals für Menschenrechte und Gerechtigkeit einsetzen und habe dann mit dem Jura-Studium begonnen.

Spielt da auch Ihre iranische Geschichte eine Rolle?

Ich hatte sehr klare Erinnerungen an den Iran und auch an den Iran-Irak-Krieg. Ich kann mich noch erinnern, wie wir in den Kellerräumen Schutz suchen mussten, weil Teheran bombardiert wurde und wir nicht wussten, ob nicht jeden Moment eine Bombe auf unser Haus fällt. Und ich habe gesehen, wie autokratische Kräfte ein ganzes System sprengen können. Deshalb war es mir wichtig, mich in diesem Bereich zu engagieren.

Sie wollten Richterin werden?

Im Zuge meiner Referendarzeit habe ich eine Station beim Gericht absolviert. Aber nach meinem Examen gab es keine Ausschreibung für Richterstellen in Köln. Ich sah allerdings eine Ausschreibung beim Bundesinnenministerium und seinen Geschäftsbereichsbehörden und bestand das Auswahlverfahren.

Wieso sind Sie zum Verfassungsschutz gegangen?

Ich habe mich damals für den Verfassungsschutz entschieden, weil mich das Thema besonders angesprochen hat. Außerdem war der Verfassungsschutz in Köln, was aus privaten Gründen ein großer Vorteil war.

Was haben Sie sich denn damals unter dem Verfassungsschutz vorgestellt?

Ich fand die Beschreibung sehr ansprechend: Frühwarnsystem, sich für Demokratie und den Rechtsstaat einsetzen, auf extremistische Gefahren hinweisen. Ich hatte aber keine konkrete Vorstellung. Was mir sehr wichtig war, und das hat mich sehr beruhigt, dass der........

© Berliner Zeitung


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