Die Ukraine verliert derzeit nicht nur das Momentum entlang der mehr als 1000 Kilometer langen Donbassfront im Osten des Landes, sondern muss auch das Ausbluten der Millionenstadt Charkiw befürchten. Präsident Wolodymyr Selenskyj warnt in Anbetracht der „schwierigen Lage“ ausdrücklich vor einer militärischen Niederlage der Ukraine – er fordert deshalb von seinen westlichen Verbündeten mehr Waffen und Munition. Und was hat es mit dem umkämpften Ort Tschassiw Jar in der Nähe von Bachmut auf sich? Wird sich dort das Schicksal des Donbass entscheiden?

Darüber hat die Berliner Zeitung mit Markus Reisner gesprochen. Er ist Offizier des österreichischen Bundesheeres und kommandiert im Rang eines Oberst die Garde in Wien. Der 45-Jährige veröffentlichte seit Beginn der russischen Invasion mehrere Analysevideos über den Krieg, mit denen er auch über die österreichischen Grenzen hinaus bekannt wurde. In der Berliner Zeitung äußerte sich Reisner bereits zum Krieg – zur Drohnenpolitik sowie zur Sommeroffensive der Ukraine. Jetzt konnten wir telefonisch mit Markus Reisner sprechen.

Herr Reisner, die Initiative auf dem Schlachtfeld in der Ostukraine liegt Berichten zufolge bei den Russen. Wie bewerten Sie derzeit die Lage in den umkämpften Gebieten?

Der Krieg wird im Wesentlichen auf drei Ebenen geführt. Die strategische Ebene ist derzeit von Angriffen der russischen Streitkräfte mit weitreichenden Bombern, Marschflugkörpern und iranischen Drohnen auf die kritische Infrastruktur der Ukraine bestimmt. Sollten diese Angriffe weiterhin Erfolg haben, wird es für die Ukraine zunehmend ein nachteiliger Abnutzungskrieg – denn die Ukraine hat derzeit nicht genügend Fliegerabwehrsysteme, um beispielsweise die russischen Gleitbomben abzuschießen. Auf der operativen Ebene steht die Ukraine vor dem teuflischen Dilemma, entscheiden zu müssen: Setzen wir unsere wenigen Fliegerabwehrsysteme zum Schutz der kritischen Infrastruktur in den Städten ein oder verschieben wir sie an die Front? Außerdem kommen derzeit große ressourcentechnische Unterschiede in der Artillerie zum Vorschein; da hat die Ukraine einen Nachteil von eins zu sechs.

Auch wenn Präsident Selenskyj oder ranghohe Beamte in Kiew von einer „schwierigen Lage“ an der Front berichten, ist der Krieg für die Ukraine nicht verloren, oder?

Auf der taktischen Ebene, der untersten Ebene, gelingt es der Ukraine noch, die Angriffe der Russen abzuwehren. Insbesondere durch den Einsatz sogenannter First-Person-View-Drohnen, Panzerabwehrwaffen und Minenfelder. Aber das Problem ist, dass die grundsätzliche Abnutzung sich zu Ungunsten der Ukraine entwickelt.

12.04.2024

gestern

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Meldungen über Kämpfe in Tschassiw Jar, einer Kleinstadt im westlichen Donbass, bestimmen die Berichterstattung von der Front. Wie wichtig ist der Ort für den Kriegsverlauf?

Tschassiw Jar ist eine ukrainische Stellung westlich von Bachmut, sie ist Teil der ersten Verteidigungslinie der Ukrainer im Donbass. Den Russen ist es in den vergangen zwei Jahren allerdings gelungen, sich langsam durch die Stellungen durchzukämpfen. Bachmut, Awdijiwka, Soledar und Popasna sind Beispiele. Die ukrainischen Streitkräfte versuchen nun in Tschassiw Jar die russischen Vorstöße so lange wie möglich zu verzögern, um die dahinterliegenden Verteidigungsstellungen weiter auszubauen. Die Ukraine will Zeit gewinnen.

Medien hierzulande sprechen im Zusammenhang mit Tschassiw Jar von einer eminent wichtigen Bergfestung für die Ukraine.

Der Ort ist in der Tat besonders: Und zwar befindet sich Tschassiw Jar auf einer Höhe – wobei der restliche Donbass recht flach ist. Somit haben die Ukrainer einen Blick ins weite Tal nach Bachmut und in andere Richtungen. Außerdem befindet sich vor den Toren von Tschassiw Jar ein künstlicher Kanal. Faktisch ist es ein Panzerhindernis für die Russen. Bedeutet: Die Ukrainer sitzen gerade auf den Höhen von Tschassiw Jar und haben große topografische Vorteile auf ihrer Seite. Sollte jedoch Russland die Ortschaft einnehmen, werden sie große Vorteile gegenüber den Ukrainern haben, um weiteres prominentes Terrain westlich von Tschassiw Jar in Angriff zu nehmen.

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10.04.2024

Der Frontverlauf verschiebt sich seit Monaten nur sehr wenig, wenn wir den mehr als zwei Jahre andauernden Krieg insgesamt betrachten. Warum ist das so?

Die signifikanten Geländegewinne für die russische Seite zu Beginn des Krieges, gefolgt von den großen Rückeroberungen der Ukrainer, scheinen in der Tat lange her zu sein. Denn seit Monaten ist die Front faktisch mehr oder weniger eingefroren. Es gab gescheiterte ukrainische Frühjahrs- und Sommeroffensiven, und wir sehen derzeit eine zweite laufende russische Winteroffensive, die ebenfalls kaum Ergebnisse bringt. Hier sieht man exemplarisch die Grammatik eines Abnutzungskrieges.

Was meinen Sie damit?

Für den Beobachter oder auch in der Medienberichterstattung entsteht der Eindruck, es geschehe kaum etwas an der Front. Aber das täuscht. Im Abnutzungskrieg werden Ressourcen permanent verbraucht, um das Mindeste herauszuholen: die Befestigung der eigenen Verteidigungslinien.

Sie ziehen in Ihren Analysen immer wieder Parallelen zum Ersten Weltkrieg. Könnten Sie das näher erläutern?

Denken Sie an das berühmte Buch und den Film „Im Westen nichts Neues“. Der Satz fasst die Lage in der Ukraine gerade sehr gut zusammen. Für den außenstehenden Beobachter hat sich während des Ersten Weltkrieges an der Westfront kaum was getan, man bekam das Gefühl, es herrsche Stillstand. In der Realität war es jedoch so, dass beide Kriegsparteien ihre maximalen Ressourcen einsetzten, bis zu dem Punkt, an dem eine Seite nicht mehr mithalten konnte. Und genau das sehen wir auch in der Ukraine.

Also im Osten nichts Neues?

Auch wenn der erste Blick uns zeigt, dass es kaum zu Geländegewinnen kommt, vielleicht ein langsames Vormarschieren der Russen – es tobt ein erbitterter Kampf der Ressourcen. Und in diesem Kampf haben die Russen derzeit immer größere Vorteile. Das Ziel Moskaus wird sein: so lange zu kämpfen, bis die Ukraine aufgrund ihrer Ressourcenlage nicht mehr imstande ist, ihre Position zu halten. Und dann kann es sehr schnell zu einem möglichen Dammbruch kommen mit großen Manövern und mehr Bewegung am Frontverlauf.

Es wird mit einer baldigen russischen Großoffensive gerechnet. Wird es dann um die Eroberung des Donbass gehen, oder muss die Ukraine auch die Besatzung der Millionenstadt Charkiw und weiterer Städte in der Mitte und im Westen des Landes fürchten?

Aus meiner Sicht ist eine Militäroffensive gegen die Millionenstadt Charkiw bereits am Laufen. Russland versucht die Stadt so zu treffen, dass sie für die Bevölkerung unbewohnbar ist. Die Angriffe auf die kritische Infrastruktur zeigen das sehr deutlich – unabhängig davon, ob es zu zeitnahen Vorstößen von russischen Bodentruppen kommt. Aber die Offensive läuft de facto schon: Wir sehen, dass Russland versucht, an verschiedenen Stellen der über 1000 Kilometer langen Front immer wieder anzugreifen, um die Ukraine zu zwingen, ihre Reserven auszuspielen. Die Russen hoffen damit, dass die Ukraine ihre operativen Reserven verbraucht und man selbst an einer günstigen Stelle plötzlich durchbrechen kann. Es geht also keinesfalls „nur“ um Charkiw.

Kommen wir zu den verschiedenen Waffensystemen, die die Ukraine von ihren westlichen Verbündeten fordert. Der Taurus-Marschflugkörper verschwindet zunehmend aus der hitzigen Waffen-Debatte in Deutschland. Stattdessen hört man vermehrt vom gravierenden Munitionsmangel Kiews.

Dieser Munitionshunger ist typisch für einen Abnutzungskrieg. Auch hier gebe ich Ihnen ein historisches Beispiel: 1915 gab es in Großbritannien die sogenannte Munitionskrise. Die Briten dachten Ende 1914, der Krieg wäre eigentlich schon zu Ende – mussten jedoch feststellen, dass sie sich geirrt und enorme Mängel bei Munition, Waffen und Artillerie hatten. Das Problem war, dass die Rüstungsindustrie Großbritanniens damals privatwirtschaftlich organisiert war und nicht diese Mengen liefern konnte, die aber an der Front gebraucht wurden. Das führte dann zu einer sehr radikalen Maßnahme der britischen Regierung, mit Unterstützung des Königshauses, dass die Rüstungsindustrie verstaatlicht wurde.

Doch was bedeutet das für die Ukraine heute?

Der militärisch-industrielle Komplex der Ukraine ist durch den Krieg schwer angeschlagen. Kiew lebt quasi von der Unterstützung des Westens, insbesondere in Munitionsfragen. Das Problem: Auch bei uns werden die Lager zunehmend verbraucht, weil die Industrie nicht nachkommt, die Bedürfnisse zu befriedigen, die man in diesem Abnutzungskrieg hat. Auf der anderen Seite sehen wir wiederum ein Russland, das im Dreischichtbetrieb Munition produziert und zusätzlich von Staaten wie Nordkorea signifikante Munitionsmengen bekommt. Man nimmt an, dass Russland durch die Eigenproduktion und die Lieferung aus befreundeten Ländern allein in diesem Jahr zwischen fünf und sechs Millionen Artilleriegranaten zur Verfügung hat. Schauen Sie zum Vergleich mal in den Westen; Stichwort: das Versprechen von einer Million Granaten seitens der EU.

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Vielen Dank für das Gespräch.

Interview: Nicolas Butylin

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„Es kann schnell zu einem Dammbruch kommen“ – Oberst aus Österreich zur Lage in der Ukraine

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14.04.2024

Die Ukraine verliert derzeit nicht nur das Momentum entlang der mehr als 1000 Kilometer langen Donbassfront im Osten des Landes, sondern muss auch das Ausbluten der Millionenstadt Charkiw befürchten. Präsident Wolodymyr Selenskyj warnt in Anbetracht der „schwierigen Lage“ ausdrücklich vor einer militärischen Niederlage der Ukraine – er fordert deshalb von seinen westlichen Verbündeten mehr Waffen und Munition. Und was hat es mit dem umkämpften Ort Tschassiw Jar in der Nähe von Bachmut auf sich? Wird sich dort das Schicksal des Donbass entscheiden?

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Herr Reisner, die Initiative auf dem Schlachtfeld in der Ostukraine liegt Berichten zufolge bei den Russen. Wie bewerten Sie derzeit die Lage in den umkämpften Gebieten?

Der Krieg wird im Wesentlichen auf drei Ebenen geführt. Die strategische Ebene ist derzeit von Angriffen der russischen Streitkräfte mit weitreichenden Bombern, Marschflugkörpern und iranischen Drohnen auf die kritische Infrastruktur der Ukraine bestimmt. Sollten diese Angriffe weiterhin Erfolg haben, wird es für die Ukraine zunehmend ein nachteiliger Abnutzungskrieg – denn die Ukraine hat derzeit nicht genügend Fliegerabwehrsysteme, um beispielsweise die russischen Gleitbomben abzuschießen. Auf der operativen Ebene steht die Ukraine vor dem teuflischen Dilemma, entscheiden zu müssen: Setzen wir unsere wenigen Fliegerabwehrsysteme zum Schutz der kritischen Infrastruktur in den Städten ein oder verschieben wir sie an die Front? Außerdem kommen derzeit große ressourcentechnische Unterschiede in der Artillerie zum Vorschein; da hat die Ukraine einen Nachteil von eins zu sechs.

Auch wenn Präsident Selenskyj oder ranghohe Beamte in Kiew von einer „schwierigen Lage“ an der Front berichten, ist der Krieg für die Ukraine nicht verloren, oder?

Auf der taktischen Ebene, der untersten Ebene, gelingt es........

© Berliner Zeitung


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