Hunderte Ukrainer – die meisten darunter Männer zwischen 30 und 60 Jahre alt – drängten sich am Mittwochabend vor dem Reisepass-Center der ukrainischen Botschaft in Warschau. Die Tür der Auslandsvertretung war nämlich geschlossen – man verweigerte den Wartenden, ihre schon gezahlten Reisedokumente auszuhändigen. „Skandal“ und „Nordkorea“ riefen die Männer dem Botschaftspersonal entgegen.
Doch der Reihe nach: Die ukrainische Regierung unter Präsident Wolodymyr Selenskyj kündigte an, die Ausgabe von Reisepässen an Auslands-Ukrainern zwischen 18 und 60 Jahren „vorübergehend“ zu stoppen. Sie sollen stattdessen in ihr Heimatland zurückkehren und dort ihre bürokratischen Angelegenheiten erledigen.
Die Krux nun: Falls männliche Diaspora-Ukrainer zurück in ihre Heimat fahren, werden sie das kriegsgebeutelte Land nicht mehr verlassen können. Denn in der Ukraine herrscht seit dem russischen Angriff ein Ausreiseverbot für wehrfähige Männer. Statt der Ausreise – oder besser gesagt der Heimreise an den Lebensmittelpunkt in Berlin, London oder Vilnius – könnte die Front in der Ostukraine auf sie warten. Das Ablaufdatum ihres dunkelblauen Reisepasses kann man also getrost als eine Art Countdown ansehen.
Wie man an der Reaktion der aufgebrachten Meute vor der Passausgabe in Warschau sehr klar erkennen kann: Eine solche Regelung treibt einen Keil zwischen Auslands-Ukrainern und den Ukrainern, die in der Heimat dem russischen Bombenterror ausgesetzt sind. Die politische Führung in Kiew will das jedoch nicht verstehen. Vielmehr zeigt ein solcher Schritt: Die ukrainische Regierung kann sich nicht (mehr) in die Lebensrealitäten von Millionen von Auslands-Ukrainern hineinversetzen.
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Außenminister Dmytro Kuleba sagte dazu erst kürzlich: „Der Aufenthalt im Ausland entbindet einen Bürger nicht von seinen Pflichten gegenüber dem Heimatland.“ Andere Militärs in Kiew fordern, „der Flucht vor dem Wehrdienst“ ein Ende zu setzen. Die ukrainischen Streitkräfte leiden derzeit unter akutem Soldatenmangel, die Moral in der Truppe sinkt zunehmend, Russland hat auf dem Schlachtfeld die Initiative, der Stellungskrieg im Donbass zermürbt Politiker, Militärs und Otto Normalverbraucher.
Doch wird eine solche Vorschrift, mit äußerst autoritärem Geschmäckle, die Krisensituation für Kiew lösen? Wird der subtile Vorwurf, Auslands-Ukrainer seien per se Wehrdienstverweigerer, eben jene Menschen zurück nach Lwiw, Odessa oder Charkiw bringen? Oder ist es nicht vielmehr ein Schlag in die Magengrube für all die Diaspora-Ukrainer, die sich für ihr Land im Ausland einsetzen? Was außerdem vergessen wird: Nicht wenige Ukrainer in Deutschland und dem Rest der EU haben sich ein Leben hier aufgebaut, gehen einer Arbeit nach, haben hier ein neues Zuhause gefunden. In der Ukraine haben sie vielleicht keine Familie, keinen Job, kein Heimatgefühl mehr.
About 300 male Ukrainian citizens of conscription age stormed the passport section of the #Ukraine's Consulate in Warsaw, #Poland, demanding to issue them their new ten-year-valid passports for which they'd already paid, according to a Warsaw-based lawyer Yevhen Semeniaka,… https://t.co/InbTBWDJM3 pic.twitter.com/yYJoajESJn
Und kommen wir zum autoritären Aspekt einer solchen Reisepassregelung. Denn nicht unweit von Kiew hat ein Alleinherrscher vor wenigen Monaten eine fast identische Richtlinie eingeführt. Hat sich Selenskyj die Maßnahme ausgerechnet von Alexander Lukaschenko abgeschaut? Der belarussische Machthaber führte nämlich ein ähnliches Gesetz ein – auch Auslands-Belarussen müssen seit einem halben Jahr zurück in ihre Heimat, um ausgelaufene Dokumente zu aktualisieren. Somit sollten die vom Regime verhassten Oppositionellen aus Litauen, Polen und Co. zurück nach Belarus gedrängt werden, wo der Grenzschutz sie direkt festnehmen könnte.
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Beweggründe eines solchen Ausgabestopps von Dokumenten mögen in Minsk und Kiew gänzlich unterschiedlich sein. Doch die Art und Weise, wie man seine Bürger versucht, ins Land ihrer Staatsangehörigkeit zu zwingen, verrät den Grad der Verzweiflung im politischen Kiew.
Der ukrainische Botschafter in Warschau, Vasyl Zvarych, versuchte die Gemüter noch an Ort und Stelle zu beruhigen und sagte am Abend, es seien „technische Fehler“ für die Probleme bei der Passausstellung verantwortlich. Es sei nur zu hoffen, dass dem wirklich so sei. Denn diese „belarussische“ Regelung wird der Ukraine mehr schaden als nützen.
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Hunderte Ukrainer – die meisten darunter Männer zwischen 30 und 60 Jahre alt – drängten sich am Mittwochabend vor dem Reisepass-Center der ukrainischen Botschaft in Warschau. Die Tür der Auslandsvertretung war nämlich geschlossen – man verweigerte den Wartenden, ihre schon gezahlten Reisedokumente auszuhändigen. „Skandal“ und „Nordkorea“ riefen die Männer dem Botschaftspersonal entgegen.
Doch der Reihe nach: Die ukrainische Regierung unter Präsident Wolodymyr Selenskyj kündigte an, die Ausgabe von Reisepässen an Auslands-Ukrainern zwischen 18 und 60 Jahren „vorübergehend“ zu stoppen. Sie sollen stattdessen in ihr Heimatland zurückkehren und dort ihre bürokratischen Angelegenheiten erledigen.
Die Krux nun: Falls männliche Diaspora-Ukrainer zurück in ihre Heimat fahren, werden sie das kriegsgebeutelte Land nicht mehr verlassen können. Denn in der Ukraine herrscht seit dem russischen Angriff ein Ausreiseverbot für wehrfähige Männer. Statt der Ausreise – oder besser gesagt der Heimreise an den Lebensmittelpunkt in Berlin, London oder Vilnius – könnte die Front in der Ostukraine auf sie warten. Das Ablaufdatum ihres dunkelblauen Reisepasses kann man also getrost als eine Art Countdown ansehen.........
© Berliner Zeitung
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