Müssen wir einen weiteren Krieg in Europa fürchten? Hört man den Staatschefs einiger osteuropäischer Länder genau zu, steht nach dem Beginn des Ukraine-Kriegs ein weiterer militärischer Konflikt vor der Tür. So könnte man zumindest die Kriegsrhetorik von Donald Tusk und Alexander Lukaschenko interpretieren.

Da ist zunächst einmal der jahrzehntelange belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko – der bei uns im Westen oftmals schlicht und bäuerlich rüberkommt. „Können unsere Soldaten theoretisch Teile Polens besetzen?“, fragt er einen seiner Generäle während einer Militärübung nur wenige Kilometer von der polnischen Grenze entfernt. „Alle Aktionen sind geplant, die Fragen der Kampfbereitschaft werden ausgearbeitet, die Truppen werden vorbereitet“, antwortet der Kommandeur. Lukaschenko nickt und wirkt nachdenklich.

Der politische Streit in Polen ist lange noch nicht zu Ende

12.11.2023

Lukaschenko droht mit Angriff auf Nato-Länder Litauen und Polen

28.03.2024

Kurze Zeit später fährt Lukaschenko in die Gebietshauptstadt Grodno, in den Westen von Belarus. Die Suwalki-Lücke, die das Baltikum mit dem Rest der Nato verbindet, eine Art Achillesferse der Nato, ist nicht weit entfernt. Bis nach Polen – dem östlichen Vorposten des westlichen Militärbündnisses – sind es von Grodno aus ebenfalls nur 15 Kilometer. Zum Vergleich: Zwischen dem Müggelsee und dem Haus des Berliner Verlages am Alexanderplatz liegen etwa 20 Kilometer.

„Wir wollen kein fremdes Gebiet“, sagt Lukaschenko in West-Belarus, „glauben Sie niemandem, der sagt, dass wir kämpfen wollen.“ Er spricht zu Krankenhausmitarbeitern; sinniert über die friedliche DNA der Belarussen und behauptet, Belarus spiele im Ukraine-Krieg als Kriegspartei keine Rolle. Doch schon im nächsten Satz horchen die etwas bedrückt wirkenden Zuhörer auf: „Wir bereiten uns auf Krieg vor, das sage ich euch offen“, so Lukaschenko. „Wenn ihr Frieden wollt, bereitet euch auf den Krieg vor.“ Geopolitische Friedensrhetorik klingt wahrlich anders.

•vor 45 Min.

09.04.2024

•gestern

•vor 2 Std.

•vor 5 Std.

Belarus investiere derzeit viel in seine Streitkräfte für den Fall, dass es vom Westen angegriffen werde, so lautet der Tenor im politischen Minsk. Die Nato- und EU-Mitglieder Polen und Litauen hätten sich schon längst auf den Krieg vorbereitet, indem sie Schützengräben und Panzersperren bauten, sagt Lukaschenko. Den Einwohnern von Grodno, das übrigens zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg polnisch war, sagt der 69-Jährige: „Ihr gehört zu uns. Wir werden euch niemals abgeben.“

Doch eine solche Rhetorik, all die Investments in die Armee und die militärisch-logistischen Vorbereitungen „auf etwas Unvorhersehbares“ gibt es nicht nur östlich der EU- und Nato-Grenzen. Der geografische Nachbar Polen bereitet sich angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine ebenfalls intensiv auf etwaige Kriegsszenarien vor. Vielmehr noch: Die Rhetorik eines Donald Tusk ähnelt sogar dem, was Lukaschenko so äußert.

„Ich weiß, es klingt niederschmetternd, vor allem für die jüngere Generation, aber wir müssen uns daran gewöhnen, dass eine neue Ära begonnen hat: die Vorkriegszeit“, sagte der polnische Ministerpräsident nur wenige Tage vor Lukaschenkos Auftritt in Grodno. Er wolle zwar niemandem Angst machen – allerdings sei Krieg „kein Konzept mehr aus der Vergangenheit“. Das Schreckensgespenst eines bevorstehenden Krieges sei „real“, so Tusk.

Dabei hat die Berliner Zeitung in diesem Zusammenhang erst kürzlich ein Interview mit Anna Radwan-Röhrenschef, der Unterstaatssekretärin im polnischen Außenministerium, geführt. „Immer mehr Menschen in Polen fürchten den Dritten Weltkrieg. Wäre es nicht notwendig, auf Friedensgespräche zwischen Russland und Polen zu drängen?“, fragten wir die Topdiplomatin. „Polen befindet sich nicht im Krieg mit Russland“, lautete die knappe Antwort der Polin.

Der polnische Regierungschef Tusk setzt seine Worte der „Vorkriegszeit“ und der „realen Gefahr“ allerdings ganz bewusst ein. Denn nur wenige Monate nachdem Frankreichs Präsident Emmanuel Macron gesagt hatte, man dürfe kämpfende Nato-Bodentruppen für die Ukraine nicht ausschließen, hält sich die Euphorie in den mittel- und westeuropäischen Gesellschaften für den Vorstoß Frankreichs in Grenzen. Umfragen aus dem vergangenen Jahr ergaben, dass nur drei von zehn Deutschen für ihr Land kämpfen würden. Auch in den Nato-Ländern Osteuropas liegt der Wert nicht wesentlich höher. Das zeigt: Insbesondere die Jugend in Europa ist nicht bereit, die Stiefel zu schnüren und gen Osten zu marschieren, um in einem Schützengraben unter Artilleriebeschuss zu sterben.

Doch warum warnen dann Tusk und Lukaschenko gebetsmühlenartig vor dem bevorstehenden Militärkonflikt, während Warschau und Minsk zeitgleich betonen, man habe doch gar kein Interesse an einem Krieg? Ist es vielleicht für beide einfach ein passender Moment, noch mehr Ausgaben für das eigene Militär zu rechtfertigen?

Fest steht: An die Behauptung, Belarus und Russland seien derzeit die größte Sicherheitsbedrohung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, haben sich die Menschen in Warschau und Vilnius gewöhnt. Hierzulande ruft die Kriegsrhetorik Lukaschenkos oder jene von Wladimir Solowjow („Atombomben schlagen in wenigen Sekunden in Berlin ein“) im russischen Staatsfernsehen kaum noch Reaktionen hervor. Und auch in Minsk schüttelt Otto Normalverbraucher nur noch uninteressiert den Kopf, wenn er zur Primetime hört, Polen, Litauen und die Ukraine wollten Belarus dreiteilen.

Diplomatin aus Warschau: Polen will keine Truppen in die Ukraine entsenden

12.03.2024

Belarus: Es gibt den Widerstand trotz zunehmender Repressionen

23.10.2023

Allerdings sollte man besonders den Normalisierungseffekt dieser Kriegsrhetorik von beiden Seiten kritisch beäugen. Impliziert ein solcher Sprech nicht, dass ein Konflikt zwischen der Nato und einem russlandgeführten Bündnis unausweichlich ist? Was bleibt von der Diplomatie übrig? Oder wir schlittern endgültig in einen Kollisionskurs und Donald Tusks Worte über eine „Vorkriegszeit“ bewahrheiten sich. Vielleicht nur deshalb, weil eine Partei aus Versehen eskaliert und ihr Gesicht nicht verlieren will.

QOSHE - Kriegsrhetorik: Belarus und Polen sprechen von „Vorkriegszeit“ - Nicolas Butylin
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Kriegsrhetorik: Belarus und Polen sprechen von „Vorkriegszeit“

19 0
11.04.2024

Müssen wir einen weiteren Krieg in Europa fürchten? Hört man den Staatschefs einiger osteuropäischer Länder genau zu, steht nach dem Beginn des Ukraine-Kriegs ein weiterer militärischer Konflikt vor der Tür. So könnte man zumindest die Kriegsrhetorik von Donald Tusk und Alexander Lukaschenko interpretieren.

Da ist zunächst einmal der jahrzehntelange belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko – der bei uns im Westen oftmals schlicht und bäuerlich rüberkommt. „Können unsere Soldaten theoretisch Teile Polens besetzen?“, fragt er einen seiner Generäle während einer Militärübung nur wenige Kilometer von der polnischen Grenze entfernt. „Alle Aktionen sind geplant, die Fragen der Kampfbereitschaft werden ausgearbeitet, die Truppen werden vorbereitet“, antwortet der Kommandeur. Lukaschenko nickt und wirkt nachdenklich.

Der politische Streit in Polen ist lange noch nicht zu Ende

12.11.2023

Lukaschenko droht mit Angriff auf Nato-Länder Litauen und Polen

28.03.2024

Kurze Zeit später fährt Lukaschenko in die Gebietshauptstadt Grodno, in den Westen von Belarus. Die Suwalki-Lücke, die das Baltikum mit dem Rest der Nato verbindet, eine Art Achillesferse der Nato, ist nicht weit entfernt. Bis nach Polen – dem östlichen Vorposten des westlichen Militärbündnisses – sind es von Grodno aus ebenfalls nur 15 Kilometer. Zum Vergleich: Zwischen dem Müggelsee und dem Haus des Berliner Verlages am Alexanderplatz liegen etwa 20 Kilometer.

„Wir wollen kein fremdes Gebiet“, sagt Lukaschenko in West-Belarus,........

© Berliner Zeitung


Get it on Google Play