Damit hat wohl niemand gerechnet: Russische Truppen haben in den vergangenen Tagen das frontnahe Dorf Otscheretyne im Donezk-Gebiet fast ohne ukrainische Gegenwehr eingenommen. Übereinstimmenden Berichten zufolge haben sich ukrainische Soldaten der 115. Mechanisierten Brigade kampflos zurückgezogen und somit für einen völlig überraschenden Durchbruch gesorgt.

Dabei hatte sich am Frontverlauf im Osten und Süden der Ukraine monatelang kaum etwas geändert. Experten sprachen nach mehr als zwei Jahren Krieg von einem Stellungs- und Zermürbungskrieg in der Ukraine; im Mittelpunkt stehen derzeit eigentlich die Kämpfe um die Ortschaft Tschassiw Jar, die auf einer Anhöhe liegt und militärstrategisch enorm wichtig ist – die Berliner Zeitung berichtete.

Doch 50 Kilometer südlich von Tschassiw Jar, in Otscheretyne, kam es nun zum unerwarteten Durchbruch. Kremlnahe Telegram-Kanäle berichten, dass die meisten ukrainischen Soldaten gefangen genommen wurden – es gebe jedoch noch weitere ukrainische Einheiten, die versuchen, Stellungen am westlichen Ortsrand zu halten. Auf den Dächern mehrerer Häuser im Dorfzentrum soll laut russischen Telegram-Accounts die weiß-blau-rote Trikolore wehen. Außerdem hätten Moskaus Truppen nach der Einnahme von Otscheretyne einen weiteren Vorstoß in zwei weitere frontnahe Dörfer in der Gegend versucht.

Hinzu kommt: Der Ort Otscheretyne ist ein wichtiger Knotenpunkt für den Transport wichtiger militärischer Güter der ukrainischen Armee. Das Dorf fungiert als eine Art Hauptumschlagplatz für die Verstärkung von Positionen rund um Awdijiwka.

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Doch wie kam es zu dem schnellen Durchbruch der Russen? Die Gegend nordwestlich von Donezk galt lange als stabile Zone ohne große Veränderungen entlang der Donbass-Front. Das ukrainische Militär wollte sich erwartungsgemäß nicht zu den konkreten Entwicklungen rund um Otscheretyne äußern. Ukrainische Medien berichten jedoch, dass die Armeeführung in Kiew eine Untersuchung einleiten werde, um die Gründe der Massenflucht herauszufinden.

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Während offiziell unklar bleibt, wie es zum abermaligen Verlust von Territorium kommen konnte, rumort es in den sozialen Netzwerken und Telegram-Kanälen. Eine Theorie besagt, die ukrainischen Verbände, die mit der Verteidigung des Frontabschnitts beauftragt waren, hätten sich in Erwartung ihrer Ablösung zurückgezogen – die neuen Kräfte seien jedoch noch nicht vor Ort eingetroffen. Ein Hin und Her, das die Russen taktisch nutzten konnten, um das Dorf zu besetzen.

Die ukrainische Presse sucht derweil einen Sündenbock für das militärische Fiasko. So wird vermutet, dass es möglicherweise unter den Soldaten der 115. Brigade zu einer Rebellion kam. Der proukrainische X-Account DeepState schreibt, dass „im Dorf einige ziemlich seltsame Ereignisse stattfanden und als Folge davon der Feind ernsthafte taktische Erfolge erzielen konnte“. Man erhoffe sich einen „strengen Umgang mit den Verantwortlichen des militärischen Desasters“. In einem anderen Post vermutet ein Kriegsblogger, der Kommandeur der Einheit habe den Rückzug ohne Absprache mit der Militärführung beschlossen. Die Lage bleibt also unübersichtlich.

Außerdem brisant: Die Ukrainer verfügen westlich von Otscheretyne offensichtlich über keine ausgebauten Verteidigungslinien, mit denen sie die russischen Streitkräfte auf ihrem Weg gen Westen aufhalten könnten. Davor hat erst kürzlich der österreichische Militärexperte Markus Reisner im Interview mit der Berliner Zeitung gewarnt: Entlang der mehr als 1000 Kilometer langen Donbassfront drohe ein „Dammbruch“.

Der militärische Druck Moskaus – da sind sich Kiew und seine westlichen Verbündeten einig – wird sich zudem in den kommenden Tagen weiter erhöhen. Man erwartet, dass die russische Sommeroffensive sogar noch vorgezogen werden könnte. Grund dafür sind die milliardenschweren amerikanischen Waffenhilfen für die Ukraine, die der Kongress in Washington am Dienstagabend gebilligt hat. Der ukrainische Militärgeheimdienstchef Kyrylo Budanow sagte in diesem Zusammenhang, der Ukraine stünden bis Juni „schwere Wochen bevor“, da Russland versuchen werde, so viel Territorium wie möglich einzunehmen und Fakten zu schaffen, bevor die Waffenhilfe aus den USA an der Front ankomme.

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Denn Washington und Kiew wollen ihren Deal rasch abwickeln. Präsident Joe Biden versprach, das Hilfspaket in den kommenden Tagen zu unterschreiben und noch in dieser Woche mit der Lieferung der Waffensysteme zu beginnen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erwartet insbesondere mehr Munition und die amerikanischen Artillerieraketen ATACMS, mit denen russische Munitionslager weit hinter der Front getroffen werden können.

QOSHE - Russland durchbricht Donbass-Front ohne Gegenwehr: Was passiert in der Ukraine? - Nicolas Butylin
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Russland durchbricht Donbass-Front ohne Gegenwehr: Was passiert in der Ukraine?

14 30
24.04.2024

Damit hat wohl niemand gerechnet: Russische Truppen haben in den vergangenen Tagen das frontnahe Dorf Otscheretyne im Donezk-Gebiet fast ohne ukrainische Gegenwehr eingenommen. Übereinstimmenden Berichten zufolge haben sich ukrainische Soldaten der 115. Mechanisierten Brigade kampflos zurückgezogen und somit für einen völlig überraschenden Durchbruch gesorgt.

Dabei hatte sich am Frontverlauf im Osten und Süden der Ukraine monatelang kaum etwas geändert. Experten sprachen nach mehr als zwei Jahren Krieg von einem Stellungs- und Zermürbungskrieg in der Ukraine; im Mittelpunkt stehen derzeit eigentlich die Kämpfe um die Ortschaft Tschassiw Jar, die auf einer Anhöhe liegt und militärstrategisch enorm wichtig ist – die Berliner Zeitung berichtete.

Doch 50 Kilometer südlich von Tschassiw Jar, in Otscheretyne, kam es nun zum unerwarteten Durchbruch. Kremlnahe Telegram-Kanäle berichten, dass die meisten ukrainischen Soldaten gefangen genommen wurden – es gebe jedoch noch weitere ukrainische Einheiten, die versuchen, Stellungen am westlichen Ortsrand zu halten. Auf den Dächern mehrerer Häuser im Dorfzentrum soll laut russischen Telegram-Accounts die weiß-blau-rote Trikolore wehen. Außerdem hätten Moskaus Truppen nach der Einnahme von Otscheretyne einen weiteren........

© Berliner Zeitung


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