Radfahren, ohne bei Regen nass zu werden. Doch was unter der Hochbahn in Kreuzberg gebaut wurde, ist mehr als Berlins erster überdachter Fahrradweg. Bäume, Blumen und Sitzgelegenheiten säumen die beigefarbene Piste. Der Lageplan zeigt auch Vogelhäuser, eine Kreidetafel für Meinungsäußerungen sowie einen Fahrradschlauch-Automaten. Beschirmt vom Viadukt der U-Bahn-Linie 1 unterbreiten Planer viele Vorschläge, wie unwirtliche Stadträume künftig besser genutzt werden könnten. An diesem Donnerstag öffnet das auf 250 Meter erweiterte Testfeld Radbahn. Zeit für einen Besuch in der Skalitzer Straße.

Links dröhnt Musik aus einem Autoradio. Rechts heult ein aufgemotzter Mercedes auf und beschleunigt. Über den Köpfen, in 3,40 Meter Höhe, klappert alle paar Minuten eine U-Bahn vorbei. So viel steht fest: Die lange schmale Mittelinsel unter der Kreuzberger Hochbahn, die von jeweils zwei Fahrstreifen gesäumt wird, ist alles andere als ein ruhiger Ort. Es gibt definitiv bessere Bereiche in Berlin, um sich zu entspannen.

In der Mitte verläuft schnurgerade ein Radweg. Links und rechts wurde der Asphalt entsiegelt. Gärtner haben Bäume gepflanzt: Zimtahorn, Traubenkirsche, die Gemeine Felsenbirne, den Kanadischen Judasbaum – um Beispiele zu nennen. Ein schräger Eimer soll Abfall aufnehmen, den Radler während der Fahrt loswerden wollen. Noch schützt ein Bauzaun den neuen Teil des Testfelds, der sich bis zur Kreuzung Mariannenstraße erstreckt. Der rund 50 Meter lange ältere Abschnitt in Richtung U-Bahnhof Görlitzer Bahnhof, den es nebenan seit 2022 gibt, sieht am Dienstag unaufgeräumt aus. Eine tote Taube liegt inmitten ihrer Federn. Auf eine Sitzbank hat jemand „Free Palestine“ gekritzelt.

Umtost von Verkehr, mitten in Kreuzberg 36 (wie ältere Berliner dieses Viertel nennen), wurde ein Streifen Stadt, der bislang als verloren galt, zurückgewonnen. Wo einst Dutzende Autos abgestellt werden konnten, wird der Platz anders genutzt. Der Verein Paper Planes, der das Projekt betreut, bekam von Senat und Bund 3,3 Millionen Euro.

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23.04.2024

Matthias Heskamp, der sich bei LinkedIn als Architekt und Visionär vorstellt, formuliert es so: „Auf 200 Metern ist unter dem Viadukt der U1 auf ehemaligen Parkplätzen ein neuer Stadtraum entstanden. In diesem öffentlichen Labor experimentieren wir und suchen nach Lösungen für die Zukunft.“ Der Raum sei da zum Radfahren, Spazieren, Rad reparieren, Abhängen, Sport machen. „Probiert aus, was der Ort unter dem Viadukt neues bietet.“ Am 25. April um 16 Uhr wird er eröffnet, um 18 Uhr beginnt die Führung. „Bis zum 15. Juni bespielen wir gemeinsam mit Kooperationspartner:innen den Raum.“

Aber wer soll sich hier aufhalten? Schon die Grünanlagen abseits der Skalitzer Straße wären ruhiger. Wenn der Zaun fällt: Wie lange werden die zarten Bäumchen erhalten, wie lange die Seitenstreifen müllfrei bleiben? Die Fragilität dessen, was hier entstanden ist, lässt erfahrene Berliner manches befürchten. Wenn man das Ganze höflich bewerten würde, ließe sich sagen: Eine spezielle Berliner Idylle ist entstanden. Oder: Der Kosmos Kreuzberg, der von durchgeknallten Ideen über Spielereien bis hin zu sinnvollen Ansätzen alles Mögliche an Novitäten umfasst, ist um einen Stern reicher geworden.

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Nebenan leuchtet eine Kreuzberger Merkwürdigkeit, die vom Bund der Steuerzahler bis hin zur Boulevardpresse jede Menge negative Ovationen kassiert hat, feuerwehrrot in der Frühlingssonne. Das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg hat den Fahrradtresen, der 2022 auf der Blockspitze gegenüber vom U-Bahnhof Görlitzer Bahnhof steht, verbreitert und mit Sitzgelegenheiten ausgestattet – was die Kosten auf 22.500 Euro steigen ließ. Der Tresen soll Radfahrern Gelegenheit zum Ausruhen geben. So ist jedenfalls der Plan.

In der Grünanlage, in der er platziert wurde, ist allerdings Radfahren verboten. Doch Verbote kümmern hier viele offensichtlich nicht. Nicht die Fahrer der getunten Limousinen, deren gemeingefährliches Fahrverhalten in Kontrast zur partizipativ geplanten, gehätschelten Lieblichkeit in der Straßenmitte steht. Auch nicht die Menschen, die es in den gerade erst verschönerten Grünanlagen entlang der Skalitzer Straße nicht schaffen, ihren Abfall zwei Meter weit zum nächsten Papierkorb zu tragen.

Es ist ein Experiment mit diversen Themen. Lässt sich verhunzter Stadtraum zurückgewinnen? Werden die Kreuzberger den Bereich überhaupt annehmen oder wünschen sie sich die Autostellplätze, die es vorher auf dem Mittelstreifen gab, zurück? Bei einer Bürgerveranstaltung sorgte man sich um die Tauben, die hier nisten, und die Wohnungslosen, die das Viadukt der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) nutzen, um die Nächte zu verbringen. Eine weitere Frage: Werden Radfahrer die Piste nutzen? Schließlich ist das Testfeld Radbahn auch ein Verkehrsexperiment.

Denn am Anfang stand vor fast zehn Jahren die Idee, vom Bahnhof Zoo in Charlottenburg zur Oberbaumbrücke, die zwischen Kreuzberg und Friedrichshain die Spree überspannt, eine durchgehende Radverkehrsanlage einzurichten. Eine neue „urbane Hauptschlagader“, wie es Heskamp formuliert. Die rund neun Kilometer lange Ost-West-Radverbindung sollte größtenteils unter dem U1-Viadukt verlaufen – deshalb der Name Radbahn. Eine Idee mit Charme, die nach anfänglicher Skepsis immer mehr Mitstreiter, dann Förderer sowie Geldgeber gewann. Doch sie hat auch Tücken.

„Der verfügbare Platz an der Hochbahn ist an vielen Stellen sehr knapp. Zwischen den Hochbahnständern stehen oft kaum mehr als zwei Meter zur Verfügung“, stellte der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) schon bald fest. „Wir halten eine Mindestbreite von 3,50 Metern für erforderlich, um unterschiedliche Geschwindigkeiten im Zweirichtungsverkehr abzuwickeln.“ Die Straßenquerungen seien Gefahrenstellen. Wer den Radweg auf dem Testfeld in der Mitte der Skalitzer Straße nutzen will, muss erst mal dorthin kommen – und wieder weg. Möglich, dass er oder sie lieber auf den bereits bestehenden durchgehenden Radverkehrsanlagen am Straßenrand bleibt.

Zu wenig Platz für die Radpiste? Kein Problem, argumentieren die Planer. Wo zwischen den Pfeilern zu wenig Platz ist, soll sie auf die Straße ausweichen – mit Schwellen von den Autos getrennt. Auch auf der Oberbaumbrücke schwenkt die Trasse auf die Fahrbahn. Auf Kreuzungen sollen Markierungen und neue Ampelschaltungen für Sicherheit sorgen. Die Radbahn sei machbar – und nicht nur eine Fahrradpiste.

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Doch es gibt weitere Themen, die adressiert werden müssen. Ulrike Hamann vom Berliner Mieterverein sagte 2022 bei einer Bürgerveranstaltung, dass Anwohner den Wegfall der rund 70 Autostellplätze unterm Viadukt kritisieren. Die Planer müssten sich stärker um Alternativen zum Auto bemühen, die „Klassenfrage“ sei zu stellen, sagte Hamann: „Kann ich mich bei diesen Nahverkehrspreisen mit meiner Familie durch die Stadt bewegen?“ Die Änderungen könnten die Lebensqualität in dem Gebiet steigern – mit der Folge, dass die Mieten weiter steigen.

Aber steigen sie nicht auch so? Und hat die Radbahn überhaupt noch Chancen, auf ganzer Länge gebaut zu werden? Statt neun Kilometer Radweg gibt es nun gerade 200 Meter. Für die Hauptverkehrsstraßen, die sie säumen und zum Teil auch in Beschlag nehmen soll, ist die Senatsverwaltung zuständig – in der das Verkehrsressort von den Grünen zur CDU gewechselt ist. Doch die Idee hat weiterhin das Zeug, Strahlkraft zu entfalten – auch in einem Bereich, wo man das nicht erwartet hätte. So wirbt der Baukonzern Max Bögl für seine Magnetschwebebahn mit dem Argument, dass unter den aufgeständerten Trassen Radschnellverbindungen entstehen könnten – Radbahn 2.0.

Wie dem auch sei: Dieses Experiment wird noch viele Menschen beschäftigen.

QOSHE - Neues von der Radbahn: So sieht der erste überdachte Radweg in Berlin aus - Peter Neumann
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Neues von der Radbahn: So sieht der erste überdachte Radweg in Berlin aus

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25.04.2024

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Umtost von Verkehr, mitten in Kreuzberg 36 (wie ältere Berliner dieses Viertel nennen), wurde ein Streifen Stadt, der bislang als verloren galt, zurückgewonnen. Wo einst Dutzende Autos abgestellt werden konnten, wird der Platz anders genutzt. Der Verein Paper Planes, der das Projekt betreut, bekam von Senat und Bund........

© Berliner Zeitung


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