Für Otto von Bismarck war der Präventivkrieg ein „Selbstmord aus Angst vor dem Tod“. Das würde voraussetzen, dass Kriege grundsätzlich vermeidbar sind.

Die Akteure im heutigen Europa scheinen jedoch darauf bedacht, die Konfrontation aus Angst vor Schlimmerem eher zu eskalieren. Alle Seiten sind in Ecken gedrängt, aus denen sie ohne erheblichen „Gesichtsverlust“ nicht herausfinden.

Am Grund der Spannungen liegt die unausgewogene, unvollständige europäische Friedensordnung, die nach dem Ende des ersten Kalten Krieges um 1990 entstand. Seitdem hat sich das Instrumentarium der Konfliktbewältigung so sehr verschlechtert, dass Krieg wie der einzige Weg aus der Sackgasse erscheint. Diplomatie wird als Beschwichtigung abgetan, Verhandlungen als Zugeständnis an den Feind – eine reichlich bizarre Art, internationale Auseinandersetzungen zu regeln.

Die Situation erinnert an 1914, als eine lange Friedenszeit und wachsender Wohlstand vergessen ließen, dass es nur eines Funkens bedurfte, um Europa in ein Blutbad zu stürzen. Auch unser Glaube, Europa habe das Geheimnis des nachhaltigen Friedens gefunden, hat sich als falsch erwiesen. Die Rückkehr des Krieges 2022 zeigt, dass die europäischen Dämonen nicht gezähmt sind.

Russland mag geblufft haben, als es im Dezember 2021 zwei Sicherheitsverträge vorschlug. Der politische Westen hat die Warnungen aus Moskau jedoch ignoriert und das Prinzip der offenen Tür bei der Nato-Mitgliedschaft der Ukraine mit aller Kraft verteidigt. Russland betrieb Zwangsdiplomatie, und die atlantischen Mächte sahen darin nur ein neues 1938. Das eigentliche Problem blieb unerkannt – das Fehlen einer integrativen europäischen Sicherheitsordnung, wie sie Michail Gorbatschow schon Ende der 1980er im Sinn hatte. Das führte zuerst zu einem zweiten Kalten Krieg und dann zum Rückfall in den zwischenstaatlichen Krieg alter Schule.

05.04.2024

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Inoffizieller Friedensplan für die Ukraine: Abgabe von Gebieten für Nato-Mitgliedschaft?

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Der Ukraine fehlen Patriot-Systeme zum Selbstschutz, Russland auf dem Vormarsch

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Hätte der russisch-ukrainische Krieg abgewendet werden können? Hätte die einfache Erklärung ausgereicht: „Die Ukraine wird zu keinem Zeitpunkt der Nato beitreten“? Wir werden es nie erfahren. Die Weigerung, Moskauer Bedenken ernstzunehmen, war für den Westen prägend. Die Alternative hätte nicht bedeutet, die russischen Positionen kritiklos zu akzeptieren – sie hätte bedeutet, sich damit auseinanderzusetzen. Weil aber das Problem nicht wahrgenommen wurde, gab es kaum Spielraum für Diplomatie.

Am Ende waren die Westmächte bereit, die physische Existenz der Ukraine für deren Recht auf einen Nato-Beitritt aufs Spiel zu setzen. So wurde der vielleicht vermeidbarste Krieg der Geschichte unausweichlich.

Doch damit ist die grundlegende Frage nicht beantwortet: Wie kann eine tragfähige, anhaltenden Frieden gewährende europäische Sicherheitsordnung geschaffen werden? Solange Europa in ein von den Imperativen des ersten Kalten Kriegs geprägtes atlantisches Machtsystem eingebunden ist, gibt es für die europäische Sicherheit und damit auch für den Ukraine-Krieg keine Lösung. Eine künftige Sicherheitsarchitektur muss gesamteuropäisch sein, nicht transatlantisch. Europa muss sein Schicksal selbst in die Hand nehmen, aber es muss ein anderes Europa sein – eines, das den langen Schatten des Kalten Krieges endlich hinter sich lässt.

Richard Sakwa, Jg. 1953, ist emeritierter Professor für russische und europäische Politik an der Universität von Kent. Er hat mehrere Bücher zu sowjetischen, russischen und postkommunistischen Themen veröffentlicht, beispielsweise „Frontline Ukraine“ (2015).

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Ukraine: Der vielleicht vermeidbarste Krieg der Geschichte

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07.04.2024

Für Otto von Bismarck war der Präventivkrieg ein „Selbstmord aus Angst vor dem Tod“. Das würde voraussetzen, dass Kriege grundsätzlich vermeidbar sind.

Die Akteure im heutigen Europa scheinen jedoch darauf bedacht, die Konfrontation aus Angst vor Schlimmerem eher zu eskalieren. Alle Seiten sind in Ecken gedrängt, aus denen sie ohne erheblichen „Gesichtsverlust“ nicht herausfinden.

Am Grund der Spannungen liegt die unausgewogene, unvollständige europäische Friedensordnung, die nach dem Ende des ersten Kalten Krieges um 1990 entstand. Seitdem hat sich das Instrumentarium der Konfliktbewältigung so sehr verschlechtert, dass Krieg wie der einzige Weg aus der Sackgasse erscheint. Diplomatie wird als Beschwichtigung abgetan, Verhandlungen als Zugeständnis an den Feind – eine reichlich bizarre Art, internationale Auseinandersetzungen zu regeln.

Die Situation erinnert an 1914, als eine lange Friedenszeit und wachsender........

© Berliner Zeitung


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