Schon auf der allerersten Seite des Romans ist seine Heldin „vom Hunger gehagert, nur noch Faden und Faser und Sehne und Kern“. Vollkommen unterernährt lässt sie einen „höllengleichen Ort hinter sich“: Mit geklauten Stiefeln und Handschuhen, einer Axt, einem Messer, einem Zinnbecher, einem Feuerstein und zwei Decken flieht sie aus einem Fort englischer Siedler. Wir befinden uns im Nordamerika des frühen 17. Jahrhunderts. Über Schneeflächen und durch dichte Wälder wandert sie Richtung Norden, wo – vielleicht – eine andere, französische Siedlung ist.

Lauren Groffs Roman „Die weite Wildnis“ erzählt die waghalsige Flucht einer ungefähr Sechzehnjährigen, sie wird meist nur „das Mädchen“ genannt. Sie begegnet Wölfen, hastet über das Eis tauender Flüsse, versteckt sich vor englischen und indigenen Verfolgern, friert, fiebert, hat Hunger und Angst. Sie schläft in Höhlen und baut sich Nester aus Zweigen, kämpft mit dem Feuerstein. Sie verschlingt Fische, Maden, Vögel und Eier, nicht immer bekömmliche Pilze und Beeren, Tannennadeln oder einen Wurf zarter Eichhörnchen, die sie, vom Muttertier beobachtet, auf einen Stock spießt und am Lagerfeuer brät.

Groff, die den Roman ihrer Schwester, der Triathletin Sarah True, widmete, malt die körperlichen Strapazen genau aus: Sie beschreibt eitrige Blasen ebenso wie Bauchschmerzen und Durchfall des halbverhungerten Mädchens, das läuft und läuft, während sich in seinem Kopf Gebete mit Erinnerungen verschlingen: In Rückblenden entfaltet sich ihr Leben als Dienstmagd – erst in einer englischen Stadt, dann nahe der Ostküste der heutigen USA. Ein bisschen Glück gibt es auch, etwa die Liebe zur kleinen Tochter ihrer Herrin. Aber nach der Ankunft in Amerika, wo Hunger, Gewalt und die Pocken wüten, überwiegt das Entsetzen. Die Siedler sind keine heroischen Pioniere, sondern ein Haufen verzweifelter, anmaßender, grausamer Menschen.

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Wie schon in ihrem Roman „Matrix“, der von einer Nonne im 12. Jahrhundert erzählt, nimmt Groff mit einem historischen Stoff weibliches Leid, aber auch weibliche Renitenz in den Blick. Sie stellt in „Die weite Wildnis“ ein ausgebeutetes, geschundenes, verachtetes Frauenleben vor, wie es unendlich viele gab. Und sie gibt dieser Figur ein Abenteuer, wie es in der Literaturgeschichte üblicherweise nur Männer unternehmen. Und so lesen wir, wie die Odyssee durch verschneite Wälder an Psyche und Körper des Mädchens zehrt und die Sicht der Flüchtenden auf ihre alte und neue Welt, auf ihren Glauben, auf sich selbst und die Natur verändert.

Das ist viel auf nicht einmal 300 Seiten, aber Lauren Groff kann enorm gut erzählen. Ihr Roman ist fesselnd, anschaulich und genau, egal ob es um Speisen und Kleidung des 17. Jahrhunderts, um Vergewaltigungen oder Hinrichtungen geht, um riesige stinkende Bären, nagenden Hunger, religiöse Sinnfragen oder die überwältigende Schönheit von Landschaften und Himmeln. Diese Schriftstellerin hat keine Angst vor drastischen Beschreibungen, schimmernden Metaphern, großen Worten und Fragen, zuweilen balanciert sie gekonnt an der Kante zum Kitsch. Diese Mischung hat in ihrer Heimat, den USA, großen Erfolg: Gleich ihr erster Roman war ein Bestseller, ihren dritten, „Licht und Zorn“, erklärte Barack Obama zu seinem Lieblingsbuch des Jahres 2015. „Die weite Wildnis“ nun, das ist ihr fünfter Roman, stand auf der Shortlist für den National Book Award. Aber eigentlich will man auf jeder einzelnen Seite dieses Buchs nur wissen, ob dem Mädchen seine aberwitzige Flucht gelingt.

Lauren Groff: Die weite Wildnis. Roman. Aus dem Englischen von Stefanie Jacobs. Claassen, Berlin 2023. 286 Seiten, 25 Euro

QOSHE - „Die weite Wildnis“: Eine 16-Jährige flieht durch Wälder, verschlingt Fische, Maden und Eier - Sabine Rohlf
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„Die weite Wildnis“: Eine 16-Jährige flieht durch Wälder, verschlingt Fische, Maden und Eier

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12.01.2024

Schon auf der allerersten Seite des Romans ist seine Heldin „vom Hunger gehagert, nur noch Faden und Faser und Sehne und Kern“. Vollkommen unterernährt lässt sie einen „höllengleichen Ort hinter sich“: Mit geklauten Stiefeln und Handschuhen, einer Axt, einem Messer, einem Zinnbecher, einem Feuerstein und zwei Decken flieht sie aus einem Fort englischer Siedler. Wir befinden uns im Nordamerika des frühen 17. Jahrhunderts. Über Schneeflächen und durch dichte Wälder wandert sie Richtung Norden, wo – vielleicht – eine andere, französische Siedlung ist.

Lauren Groffs Roman „Die weite Wildnis“ erzählt die waghalsige Flucht einer ungefähr Sechzehnjährigen, sie wird meist nur „das Mädchen“ genannt. Sie begegnet Wölfen, hastet über das Eis tauender Flüsse, versteckt sich vor englischen und indigenen Verfolgern, friert, fiebert, hat Hunger und Angst. Sie schläft in Höhlen und baut sich Nester aus Zweigen, kämpft mit dem Feuerstein. Sie verschlingt Fische,........

© Berliner Zeitung


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