Morgens beim Lesen der Berlin-Newsletter und abends beim Schauen der RBB-Abendschau bekommen sicherlich viele das Gefühl, in einem Provisorium von Stadt zu leben. Alles hält irgendwie gerade noch so zusammen, der Graffiti-Hausflur, die ausfallende U-Bahn, der Jugendclub mit gekürzten Mitteln. Wer dann im Dezember 2023 das Weihnachtsprogramm im BKA schaute, bekam eine Show zu sehen, die noch immer Witze über Ost-Frisuren macht und Lacher erntet für „Gebt uns erst mal das Begrüßungsgeld zurück!“ Am Ende sagten sie: „Kommen Sie gut rüber, wenn Sie in den Osten müssen.“

Doch genug mit der schlechten Laune, in diesem Jahr wurde den Medien, also „uns“, oft vorgeworfen, dass wir Tätern zu viel Aufmerksamkeit schenken. Es erschienen viele Texte zur Letzten Generation, zur sogenannten Clan-Kriminalität und zum Silvester-Chaos, alles Themen, die durch ihre Berichterstattung womöglich zu ihrer Verschlimmerung beitrugen. Andere Texte funktionierten nicht, obwohl sie wichtige Themen verhandeln: Zwangsräumung eines Rentners, das Schicksal einer alleinerziehenden Mutter oder der Kältebus der Stadtmission. Trotzdem müssen auch diese Ereignisse in der Stadt aufgeschrieben werden.

Aber zur Wahrheit gehört: Fast jeder Text, den wir über die Klima-Aktivisten veröffentlicht haben, hat die Leser interessiert, egal ob es eine Demonstration, ein Gerichtsprozess oder eine Kritik an ihren Protestmethoden war. Viele in unserer Redaktion stehen dem Medienphänomen der Letzten Generation kritisch gegenüber, aber dass es auf eine Art interessant ist, kann niemand abstreiten. Gerade in diesem Jahr haben überregionale Zeitungen und Zeitschriften immer häufiger Berliner Themen auf ihren Seiten gehabt. So hatten Zeit und Spiegel Anfang Dezember quasi zeitgleich einen Versuch der Annäherung an die Jungs der High-Deck-Siedlung in Neukölln abgedruckt.

27.12.2023

gestern

27.12.2023

gestern

gestern

Wer wissen will, wie schwer es die beiden Reporterinnen hatten und wie sie letztlich gescheitert sind, muss diese Texte lesen. Beide Hamburger Zeitungen haben selbstverständlich „monatelang recherchiert“ und wundern sich ernsthaft, dass „aufgewachsen an der Reeperbahn“ die Berliner Jungs nicht beeindruckt. Dafür schreiben sie eifrig mit, wie die pöbelnden Jugendlichen Olaf Scholz’ Mutter „ficken“ wollen, wie sie in Polen illegale Böller kaufen, wie sie einen Drogenabhängigen an der Bushaltestelle verprügeln und schließlich antisemitische Parolen in den Block „der Autorin dieses Textes“ diktieren. Bester Moment: Als der Spiegel seinen Lesern das Wort „Wallah“ erklärt.

Die Zeit benutzt ein paar mehr Fremdworte (gleich im ersten Satz „Testosteron“), aber ergötzt sich genauso an der Gossensprache ihrer Protagonisten. Die Autorin fragt die Jugendlichen am Ende fast mütterlich „Was ist dein Ziel?“ und wundert sich, dass da wenig kommt. Welcher Jugendliche kann schon sein Ziel genau umreißen? Es bleibt eine wohlige Schauergeschichte aus der Welt des Berliner Prekariats, wie ein Besuch im Zoo: Ein Jugendlicher nimmt der Reporterin den Block weg und schreib „Miau“ hinein. Man ist schon froh, dass die Reporterin da heil wieder rausgekommen ist.

Hubschrauber und Bodycams: 4000 Polizisten sollen Krawalle in der Silvesternacht unterbinden

vor 2 Std.

Illegales Feuerwerk in Berlin-Neukölln: Polizei-Razzia in mehreren Geschäften

heute

Trotzdem, das Hinschauen und Zuhören ist wichtig. Franziska Giffey hatte recht, als sie sagte: Das sind Berliner Kinder. Als solche sollten sie behandelt werden und zur Verantwortung gezogen, wenn nötig. Aber sie haben ihre Würde und sollten nicht so vorgeführt werden für ein paar Klicks mit den Hashtags #Silvesterchaos #Berlin.

Der Beweis, wie sehr sich Menschen dafür interessiert haben, ist der Text, der vor rund einem Jahr bei uns erschienen ist. Es war der Bericht unserer Reporterin über die Silvesternacht vor einem Jahr, er blieb fast zwölf Monate lang der Klick-Spitzenreiter auf unserer Webseite. Sie hat ihren Job gemacht: hingeschaut und aufgeschrieben, was sie gesehen hat, ohne Dünkel, ohne Anbiederung, ohne manierierte Formulierungen. Das ist etwas, das auch im Jahr 2024 noch keine Künstliche Intelligenz wird so leisten können. Kommen Sie gut rüber, also ins neue Jahr.

QOSHE - Silvesterchaos: Die High-Deck-Siedlung ist kein Zoo - Sören Kittel
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Silvesterchaos: Die High-Deck-Siedlung ist kein Zoo

4 15
29.12.2023

Morgens beim Lesen der Berlin-Newsletter und abends beim Schauen der RBB-Abendschau bekommen sicherlich viele das Gefühl, in einem Provisorium von Stadt zu leben. Alles hält irgendwie gerade noch so zusammen, der Graffiti-Hausflur, die ausfallende U-Bahn, der Jugendclub mit gekürzten Mitteln. Wer dann im Dezember 2023 das Weihnachtsprogramm im BKA schaute, bekam eine Show zu sehen, die noch immer Witze über Ost-Frisuren macht und Lacher erntet für „Gebt uns erst mal das Begrüßungsgeld zurück!“ Am Ende sagten sie: „Kommen Sie gut rüber, wenn Sie in den Osten müssen.“

Doch genug mit der schlechten Laune, in diesem Jahr wurde den Medien, also „uns“, oft vorgeworfen, dass wir Tätern zu viel Aufmerksamkeit schenken. Es erschienen viele Texte zur Letzten Generation, zur sogenannten Clan-Kriminalität und zum Silvester-Chaos, alles Themen, die durch ihre Berichterstattung womöglich zu ihrer Verschlimmerung beitrugen. Andere Texte funktionierten nicht, obwohl sie wichtige Themen verhandeln: Zwangsräumung eines Rentners, das Schicksal einer........

© Berliner Zeitung


Get it on Google Play