Es war einmal ein literarisches Genre, auf das fast hundertprozentig Verlass war: Auf den ersten Seiten gab es einen toten Menschen, und auch wenn der Anschein ein anderer war (Unfall, Suizid), war dieser Mensch ermordet worden. Dann trat jemand auf, der sich Gedanken über Tatausführung und Täter machte, entweder professionell oder hobbymäßig; falls Letzteres, war die Betreffende umso gewiefter. Und kaum war der Übeltäter, die Übeltäterin entlarvt, gab er oder sie sich auch schon geschlagen und wurde der Gerechtigkeit zugeführt. Und also endete das Buch.

Richtig, es handelt sich um den Kriminalroman. Aber mittlerweile sind Türen in alle möglichen Richtungen geöffnet worden – außer natürlich bei den 08/15-Romanen zum barrierelosen Weglesen – und immer wenn man denkt, dass keine dieser Türen mehr auf Neuland führen kann, trauen sich einzelne Autorinnen und Autoren wieder was. Führen ins Ballettmilieu, lassen die Heldin die Pianistenkarriere knapp wegen eines mysteriösen Konzerts verfehlen, greifen zu Mutterkorn, mit dem auch die Dämonen kommen.

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Von drei deutschsprachigen Autorinnen ist hier die Rede, sie haben in diesem Jahr ziemlich originelle Bücher vorgelegt, sind aber alle drei keine Neulinge mehr: Uta-Maria Heim, Jahrgang 1963, erhielt bereits zweimal den Deutschen Krimipreis; ebenso Zoë Beck, geboren 1975, die auch Übersetzerin und Verlegerin ist; schließlich Monika Geier, Jahrgang 1970, die zwar die Serienform wählte – ihre Ermittlerin hieß bereits in acht Romanen Bettina Boll –, doch hieß das nie, dass die Boll nicht aus der Reihe tanzen darf.

„Tanz oder stirb“ ist die makabre Aufforderung von Uta-Maria Heims Titel. Nuria Haas heißt ihre Hauptfigur, die „klein und dunkel“, einst ein Findelkind war und jetzt eine Traumatherapeutin ist. Tochter Rosalie hat Asperger und „lacht nie über das Unglück anderer Menschen“. Als eine Ballettstudentin Nuria anspricht – „Sie könnte an einer Ballettstange zerbrechen“, fürchtet die Therapeutin –, hat sie die eher schlechte Idee, ihre Tochter in der Nurejew-Schule anzumelden. Übrigens befinden wir uns in Stuttgart, der Stadt mit einer wahrhaft stolzen Tanztradition. Wo dann eine stolze Ballettlehrerin, Olga, ums Leben kommt.

Das Ballettmilieu wurde schon für einen Kino-Thriller arg zugespitzt, bei Heim ist es recht realistisch dargestellt, sind es eher die krausen Gedanken – Halluzinationen? Träume? – Nurias, die kühnen schreiberischen Ausfallschritten gleichen.

Sie bringt einen „heiligen Heimerad“ ins Spiel, eine sympathische Spinner-Figur, imaginiert eine Unterhaltung mit Hannah Arendt, schickt Nuria ins Museum zu Lotte Laserstein und zu Heinrich Vogelers „Sommerabend (Das Konzert)“. Martha Vogeler macht die Führung. „Aber wo bleibt der Windhund?“, denkt Nuria und mutmaßt, dass ihr die Chronologie „aus den Fugen gerät“. Außerdem, dass sie nun irgendwie auch gegen sich selbst ermitteln muss, denn sie war vor Ort, als Ballettmeisterin Olga starb und hat seltsame Gedächtnislücken.

Aber viel größere Erinnerungsaussetzer plagen das einstige Klavier-Wunderkind Harriet, Zoë Becks Thriller heißt darum auch „Memoria“. Die junge Frau wird von Albträumen geplagt, meist stirbt darin ihre Mutter bei einem Unfall, liegt tot auf der Straße. Aber dann sind da auch die Bilder von ihr selbst am Klavier, wie sie blutet und blutet. Und die Bilder von ihr, wie sie einen jungen Mann brutal zusammenschlägt. „Harriet weiß nicht, welche Erinnerung stimmt.“

Das ist famos ausgespart und dann enthüllt, Stückchen um Stückchen kommt die Wahrheit ans Licht. Bestürzender aber ist, dass „Memoria“ in eine Zukunft verlegt ist, die mit immer wieder Katastrophenalarm, Waldbränden, verödeten und raucherfüllten Städten, überwachten Menschen nur zu plausibel wirkt. „Meistens ist der Strom gegen Abend aufgebraucht.“ Dann können nur noch die Reichen ihre Häuser beleuchten.

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Einerseits befindet sich Bettina Boll, Monika Geiers Beamtin, ganz im Hier und Jetzt. Wie auch anders, da sie als Alleinerziehende für Enno und Sammy sorgen muss, die Kinder ihrer Schwester. Sammy ist jetzt in dem Alter, in dem sie für dubiose Gitarristen schwärmt. Andererseits hat sie in „Antoniusfeuer“, ihrem achten Fall, nicht nur mit Getreidepilzen zu tun, die in einer Pfeffermühle definitiv nichts zu suchen haben, mit etwas unheimlichen Geräuschen in ihrem alten, geerbten Haus, auch mit einem Bild in einer Kirche, auf dem jemand das Jesuskind in den Armen Mariens sorgfältig schwarz ausgemalt hat. Und bald auch eine hölzerne Maria mit Kind entsprechend gefärbt, also gleichsam ausradiert hat. Ein Sozialarbeiter, „drahtig und sehr tätowiert“, betreute einen afghanischen Häftling und bemühte sich unerklärlicherweise um einen Exorzismus. Der Häftling nimmt sich in seiner Zelle das Leben, der Sozialarbeiter ist verschwunden.

Monika Geiers Kriminalroman spielt in der Pfalz, ihre Figuren dürfen reden, wie den Menschen dort der Schnabel gewachsen ist, denn in der Tat, „wo kumme mir sunscht hie?“ (Antwort: in einen öden Schweiz-„Tatort“ zum Beispiel). „Antoniusfeuer“ spielt außerdem in einer Gegenwart, in der Atemkurse gegen das Flachatmen gegeben und Diversitätspreise verteilt werden – Letzteres gern auch an die Polizei – und die jüngeren Leute Digital Natives sind. Da muss es was bedeuten, wenn ein Vermisster sein Handy nicht mitgenommen hat. Allerdings blitzt der gute alte Aberglaube durch, wird eine junge Frau als Hexe verunglimpft. Und mag so manche und mancher beim schwarz bemalten Christuskind an einen Fluch denken. Oder ist es doch ein politisches Statement?

Uta-Maria Heim, Zoë Beck, Monika Geier gestatten es sich, komplex und manchmal kompliziert zu schreiben. Gestatten es ihren Figuren, Einbildungen zu haben. Erlauben es sich, Fragen zu stellen und die Antworten bisweilen weniger zu verweigern, als am Ende einfach wegplumpsen zu lassen. Sie schenken einem nichts ein, was sich schnell wegschlürfen ließe. Dafür gibt es Vielfältiges zu schmecken.


Uta-Maria Heim: Tanz oder stirb.
Kriminalroman. Gmeiner Verlag, Meßkirch 2023. 284 Seiten, 14 Euro.
Zoë Beck: Memoria. Thriller. Suhrkamp, Berlin 2023. 282 Seiten
, 16,95 Euro.
Monika Geier: Antoniusfeuer. Ariadne, Hamburg 2023. 230 Seiten, 24 Euro.

QOSHE - Kühne und spannende Büchertipps: 3 Kriminalromane aus weiblicher Feder - Sylvia Staude
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Kühne und spannende Büchertipps: 3 Kriminalromane aus weiblicher Feder

3 0
28.12.2023

Es war einmal ein literarisches Genre, auf das fast hundertprozentig Verlass war: Auf den ersten Seiten gab es einen toten Menschen, und auch wenn der Anschein ein anderer war (Unfall, Suizid), war dieser Mensch ermordet worden. Dann trat jemand auf, der sich Gedanken über Tatausführung und Täter machte, entweder professionell oder hobbymäßig; falls Letzteres, war die Betreffende umso gewiefter. Und kaum war der Übeltäter, die Übeltäterin entlarvt, gab er oder sie sich auch schon geschlagen und wurde der Gerechtigkeit zugeführt. Und also endete das Buch.

Richtig, es handelt sich um den Kriminalroman. Aber mittlerweile sind Türen in alle möglichen Richtungen geöffnet worden – außer natürlich bei den 08/15-Romanen zum barrierelosen Weglesen – und immer wenn man denkt, dass keine dieser Türen mehr auf Neuland führen kann, trauen sich einzelne Autorinnen und Autoren wieder was. Führen ins Ballettmilieu, lassen die Heldin die Pianistenkarriere knapp wegen eines mysteriösen Konzerts verfehlen, greifen zu Mutterkorn, mit dem auch die Dämonen kommen.

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Von drei deutschsprachigen Autorinnen ist hier die Rede, sie haben in diesem Jahr ziemlich originelle Bücher vorgelegt, sind aber alle drei keine Neulinge mehr: Uta-Maria Heim, Jahrgang 1963, erhielt bereits zweimal den Deutschen Krimipreis; ebenso Zoë Beck, geboren 1975, die auch Übersetzerin und Verlegerin ist; schließlich Monika Geier, Jahrgang 1970,........

© Berliner Zeitung


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