Und da liege ich nun, eine Woche vor Weihnachten, auf einem Tisch in einer Kneipe in Matsumoto, einem kleinen Ort, drei Stunden südwestlich von Tokio. Mein Arm hängt an der Seite des Tisches herunter, ich höre die Stimmen betrunkener Krimineller und das Surren einer Tattoo-Maschine. Und ich denke mich weg, auch, weil es schmerzt.

Bald ist der Lärm vorbei, denke ich. Träume von den vielen Parkplätzen im Prenzlauer Berg, davon, wie wir abends am 24. im „Übereck“ schweigen. Die Kinderlosen verschwinden dann in der „Alten Kantine“ und vermissen, während „Song 2“ von Blur mitgesungen wird, gemeinsam ein Früher, das es so nie gab. Davon träume ich gerade. Es ist mein Weihnachten.

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Während die einen Leitkultur mit Brauchtum verwechseln, sehne ich mich nach dem, was ich als Berliner Weihnachten bezeichne. Dabei ist ein Berliner Weihnachten, ganz anders als zum Beispiel in München, ein diffuser Zustand, kein Fest. Die Berliner, die noch da sind, sie haben alle verschiedene Bräuche, Rituale und Feste, um Weihnachten zu erleben. Nur wenige haben etwas mit Kirchen zu tun.

Am 24. Dezember werde ich zum Beispiel durch den Tierpark spazieren, ein alter Familienbrauch, den ich hier schon beschrieben habe. In diesem Jahr ist ein neues Mitglied der Familie zum ersten Mal dabei. Die Nichte, zum ersten Mal bei den nassen Bisons, in deren Fell sich Schlamm und Kacke sammelt. Den traurigen Löwen im niemals fertig gebauten Alfred-Brehm-Haus. Später essen wir dann Schnitzel im Restaurant, dass jetzt „Patagonia“ heißt. Und jedes Jahr stelle ich fest: Die Tiere im Tierpark sind unsterblich. Der Schuhschnabel starrt mich seit 42 Jahren unverändert böse durch die Scheibe an.

Ich rechne das Leben meiner Nichte durch. Wann sie vierzig ist, wann sie sechzig wird, wann ich verschwunden sein werde. Was sie erleben wird, in dieser Welt. Und wie sich wohl Stille für ein einjähriges Kind anfühlt.

Kein Kirchgang, kein Jesus, kein Krippenspiel. Dafür Dominosteine und „Kevin allein zu Haus“, Gottlosigkeiten am ersten Weihnachtsfeiertag, der Besuch des Krankenhauses Friedrichshain als atheistische Leitkultur. Kuchen mit Streusel und aus dem Augenwinkel werden die Schwachen beobachtet, wir wünschen jenen frohe Weihnachten, die keinen Besuch bekommen, und meinen es auch so. Friedrich Merz würde diesem Weihnachten widersprechen, und ich bin froh, dass der Teil Berlins, in dem ich groß geworden bin, für die meisten nicht Gillamoos ist.

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„Fertig“, sagt der Mann, der mich tätowiert hat, Füllmuster von Yakuza-Tattoos habe ich jetzt auf dem linken Unterarm, zeige stolz dem Boss mein Tattoo, er zuckt mit den Schultern und gibt mir einen Smirnoff Ice, den ich das letzte Mal getrunken habe, als wir noch mit D-Mark bezahlt haben. Erschöpft setze ich mich auf einen Stuhl, den Arm in Klarsichtfolie eingewickelt, die Musik wird leise, mein Kopf ist so erschöpft, von diesem Jahr, denke ich.

Ich bin alle. Erledigt. Dieses Jahr hat mich alle gemacht, zwei Kriege, noch mehr Kulturkampf, noch mehr Streit und eine Gesellschaft, die wie eine geschnittene Apfelsine am 24. Dezember in Teile fällt. Ich halte mich am Tierpark, an der Nichte, an der „Alten Kantine“ fest, um Ruhe zu finden. Ich halte mich an der gänzlich gottlosen Stille Berlins fest. Sie spendet etwas, das ich unbedingt brauche. Und vermutlich auch jeder, der noch hier ist: nämlich Kraft.

QOSHE - Deutsche Leitkultur? Das typische Berliner Weihnachten ist weit davon entfernt - Thilo Mischke
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Deutsche Leitkultur? Das typische Berliner Weihnachten ist weit davon entfernt

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23.12.2023

Und da liege ich nun, eine Woche vor Weihnachten, auf einem Tisch in einer Kneipe in Matsumoto, einem kleinen Ort, drei Stunden südwestlich von Tokio. Mein Arm hängt an der Seite des Tisches herunter, ich höre die Stimmen betrunkener Krimineller und das Surren einer Tattoo-Maschine. Und ich denke mich weg, auch, weil es schmerzt.

Bald ist der Lärm vorbei, denke ich. Träume von den vielen Parkplätzen im Prenzlauer Berg, davon, wie wir abends am 24. im „Übereck“ schweigen. Die Kinderlosen verschwinden dann in der „Alten Kantine“ und vermissen, während „Song 2“ von Blur mitgesungen wird, gemeinsam ein Früher, das es so nie gab. Davon träume ich gerade. Es ist mein Weihnachten.

Rezept der Woche: Vier Ideen für ein Last-Minute-Weihnachtsessen

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20.12.2023

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21.12.2023

•vor 4 Std.

Während die einen Leitkultur mit Brauchtum........

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