Ein Philosoph feiert seinen 300. Geburtstag. Die Kantstraße auf der Kaliningrader Altstadtinsel Kneiphof ist beidseits von Streetfood-Buden gesäumt. Ein Dach aus bunten Wimpeln flattert über dem Event, Rauchschwaden wehen in den angrenzenden Park. Kunsthandwerk wird feilgeboten, Töpferwaren der Marke Keramiksburg, auch Kantwein mit und ohne Alkohol. Im Turm des wieder aufgebauten Doms wird das eigens zum Jubiläum renovierte Immanuel-Kant-Museum eröffnet.

Neben Exponaten aus Kants Königsberger Alltag bietet es eine Tour d’Horizon der ostpreußischen Geschichte. Von den baltischen Pruzzen bis zum neuen Russland, ergänzt um eine Ton- und Licht-Show als Versuch, die Idee des kantischen Selbstbewusstseins – „der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“ – in Gestalt eines philosophischen Planetariums zu vermitteln.

Schade, dass der gedankliche Reichtum sich nur denjenigen erschließt, die Russisch können. Nicht einmal auf Englisch sind die Inhalte verfügbar – ebenso wenig im gleichfalls neu kuratierten Kant-Museum in Wessjolowka, einstmals Judtschen, knapp hundert Kilometer östlich. Ist es das, was der junge Kaliningrader Gouverneur Anton Alichanow mit seinem „russischen Kant“ meint? Alichanow ist ein Politiker mit Zukunft. Gerade 30 Jahre war er alt, als Wladimir Putin ihn 2016 in sein Amt berief; inzwischen werden ihm schon höhere Weihen prophezeit. Jemand wie Alichanow weiß die Zeichen zu lesen. Und die stehen auf Sturm, jedenfalls was das Verhältnis zum Westen betrifft.

Umso intensiver umgarnt man die einheimischen Touristen. Die rund 25 täglichen Flüge zwischen Moskau und Kaliningrad unterstreichen die Bedeutung der lange Zeit verschlafenen Ostseeprovinz und Exklave. Hier treffen Russen ihre mit dem Auto angereisten Verwandten aus Deutschland und anderen europäischen Ländern, hier verbringen sie ihre Ferien. Wo auch sonst? Die noch im vergangenen Jahr gastfreie Türkei akzeptiert die russischen Kreditkarten nicht mehr, Turkish Airlines weist immer wieder russische Passagiere zurück – und zum Sonnenbaden auf der Krim empfehlen sich Schutzweste und Helm.

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Hingegen die Ostsee: die beiden Nehrungen, die Frische und die Kurische, bizarre Sandnadeln ins Meer hineingeschoben, die wildromantische Steilküste, die Kurorte Selenogradsk und Swetlogorsk, zu deutsch Cranz und Rauschen. Als Zugabe der Philosoph. Kant wird vermarktet wie E.T.A. Hoffmann in Bamberg oder Richard Wagner in Bayreuth: Büsten aus falschem Bernstein, Statuetten aus Messing, sein Schattenriss auf Henkeltassen und T-Shirts.

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Auch die Königsberger Altstadt heißt jetzt Kant-Insel und nicht mehr Kneiphof: ein gepflegter Park mit schönem Baumbestand, mittendrin und wie vom Himmel gefallen die 88 Meter lange Kathedrale. Schautafeln (hier ausnahmsweise russisch, englisch, deutsch) berichten von der mittelalterlichen Stadt, die bis zur Zerstörung durch alliierte Bomber 1944 und dem Abtransport der Ziegelsteine durch die Sowjetmacht dort stand, wo unter Bäumen leuchtend grüner Rasen wächst. Königsberg, die Heimat des großen Philosophen, der zum Zankapfel geworden ist.

Sogar der Bundeskanzler mischt sich ein: Putin solle bloß nicht auf die Idee kommen, mit Kant seinen Krieg zu legitimieren. Russland kontert: Kant tauge nicht zur Herleitung westlicher Universalismusansprüche. Vielleicht hätte es dem Philosophen am Ende gar gefallen, dass die Politiker beider Seiten sich gegenseitig das Recht absprechen, ihn zu vereinnahmen.

QOSHE - Immanuel Kant zum 300. Geburtstag: Streit um die Deutungshoheit - Thomas Fasbender
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Immanuel Kant zum 300. Geburtstag: Streit um die Deutungshoheit

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27.04.2024

Ein Philosoph feiert seinen 300. Geburtstag. Die Kantstraße auf der Kaliningrader Altstadtinsel Kneiphof ist beidseits von Streetfood-Buden gesäumt. Ein Dach aus bunten Wimpeln flattert über dem Event, Rauchschwaden wehen in den angrenzenden Park. Kunsthandwerk wird feilgeboten, Töpferwaren der Marke Keramiksburg, auch Kantwein mit und ohne Alkohol. Im Turm des wieder aufgebauten Doms wird das eigens zum Jubiläum renovierte Immanuel-Kant-Museum eröffnet.

Neben Exponaten aus Kants Königsberger Alltag bietet es eine Tour d’Horizon der ostpreußischen Geschichte. Von den baltischen Pruzzen bis zum neuen Russland, ergänzt um eine Ton- und Licht-Show als Versuch, die Idee des kantischen Selbstbewusstseins – „der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“ – in Gestalt eines philosophischen Planetariums zu vermitteln.

Schade, dass der gedankliche Reichtum sich nur denjenigen erschließt, die........

© Berliner Zeitung


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