Es gibt Klischees, die stimmen einfach. Über die Polen sagt man etwa, dass sie eine besondere Freiheitsliebe hätten, ein spezielles Verhältnis zur Nation und zur Unabhängigkeit. Man sagt, dass sie aufmüpfig seien, sich nicht kontrollieren ließen und einen besonderen Hang zur Renitenz hätten.

Wer nun die aktuelle Ausstellung im Pilecki-Institut „Doppelt frei“ besucht, bekommt Zahlen, Daten und Fakten vorgeführt, die dieses tradierte Bild über die revolutionären Polen historisch stützen. Dabei ist das Thema dieser Ausstellung besonders klug gewählt: Die Schau thematisiert den Freiheitkampf polnischer Frauen und ihren doppelten Kampf um die Unabhängigkeit Polens und um die Erringung des Frauenwahlrechts.

Dabei muss gesagt und unterstrichen werden, dass Polen eines der ersten Nationen in Europa war, in dem Frauen wählen durften. Auf einer Schautafel am Eingang des Pilecki-Instituts, das am Pariser Platz gelegen ist, wird dies graphisch verdeutlicht: Mit der Gründung der Zweiten Polnischen Republik 1918 durch Józef Piłsudski wurden alle Polinnen zu Bürgern ernannt und erhielten das aktive und passive Wahlrecht. Sie wurden also Männern gleichgestellt. Deutschland folgte mit einem ähnlichen Gesetz ein Jahr später, die USA stimmten für das Frauenwahlrecht im Jahr 1920, Großbritannien 1928, Frankreich erst im Jahr 1946 und Belgien im Jahr 1948. An dieser Reihung kann man erkennen, dass einige Klischees über Staaten stimmen, andere wiederum völlig falsch sind: Im Falle Polens stimmt etwa das kolportierte Bild nicht, die polnische Gesellschaft sei per se frauenfeindlich.

Man muss sich vergegenwärtigen, dass Polen 123 Jahre als Land nicht existierte. Die Zeit der Teilungen war für die Polen gleichsam eine Ära des permanenten Freiheitskampfes, des Aufbegehrens, der konstanten Widerspenstigkeit gegen deutsche, österreichische oder russische Besatzer. Frauen, und das zeigt die Ausstellung mit größer Akribie, gehörten vor der Gründung der Zweiten Polnischen Republik zu den wichtigen Pfeilern des polnischen Kulturerhalts und der Vermittlung eigener Traditionen. Sie pflegten die polnische Sprache, lehrten ihre Kinder das polnische Kulturgut und – das könnte vielleicht den einen oder anderen Besucher überraschen – zogen sogar als Soldatinnen in den Kampf.

19.03.2024

•gestern

19.03.2024

•gestern

•gestern

Die phantastische Ausstellung erinnert daran, indem sie nicht nur chronologisch die einzelnen Aspekte des Kampfes um Polens Frauenwahlrecht vorstellt, sondern auch immer wieder die weiblichen Heldinnen dieses Ringens um Freiheit würdigt und ihnen ein biographisches Denkmal setzt. Unter der Besatzung der Russen hatten Frauen ein besonders hartes Schicksal zu ertragen: An den russifizierten Universitäten durften sie nicht studieren. Außerdem orientierten sich die Teilungsmächte, die Polen unterjochten, am napoleonischen Code civil, was zur Folge hatte, dass nach dem Tod des Mannes Frauen ihre Kinder nicht alleine erziehen durften, sie durften keine Verträge unterschreiben und nur eingeschränkt erben.

Schon früh formte sich Widerstand gegen diese Unterdrückung. Als Józef Piłsudski während des Ersten Weltkriegs gegen die russischen Besatzer kämpfte, gründeten sich in seinem Umfeld dezidiert weibliche Legionen, die für ein soziales souveränes Polen kämpften – und das an der Waffe. In Warschau gründeten renitente Frauen unter russischer Besatzung die erste konspirative Hochschule für Studentinnen, wo auch die spätere Nobelpreisträgerin Maria Sklodowksa-Curie studierte.

Die Ausstellung präsentiert Einzelschicksale und die wichtigsten Namen des weiblichen Widerstands. Die Mutter der feministischen Bewegung in Polen war Paulina Kuczalska-Reinschmit, Chefredakteurin des Magazins „Ster“, einer Zeitschrift, die vom Bund für die Gleichberechtigung der Polnischen Frauen (ZRKP) herausgegeben wurde. Dort artikulierten Frauen ihre Forderung nach Gleichberechtigung.

Eine eigene Würdigung bekommen in dieser Ausstellung aber auch jene Kämpferinnen, die sich für einen bewaffneten Widerstand entschlossen haben. Die Schau präsentiert Bilder, die Frauen in männlichen Uniformen zeigen, Mitglieder der Freiwilligen Frauenlegion, und erinnert an die Aktivitäten der „Dromaderinnen“, die um das Jahr 1905 herum in Fabriken Aufstände durchführten, Waffenschmuggel betrieben und sich für eine polnische Revolution engagierten. Kurzum: Sie organisierten terroristische Aktionen gegen die zaristischen Unterdrücker.

Wanda Getz ist eine der Heldinnen dieser Ausstellung. Getz war eine Unabhängigkeitsbefürworterin, die sich seit 1913 in der polnischen Pfandfinderbewegung engagierte. Sie nahm eine männliche Identität an, diente als „Kazimierz Zuchowicz“ in der 1. Brigade der Polnischen Legionen und organisierte später eine Frauentruppe der polnischen Militärorganisation in Warschau. Mutigen Kämpferinnen wie ihr, die 1918 in Polen das Frauenwahlrecht errangen, ist diese großartige Ausstellung gewidmet. Jede Berlinerin und jeder Berliner sollte sie sich anschauen. Der Eintritt ist frei.

„Doppelt frei: Die Geburtsstunde des Frauenwahlrechts in Polen“, Pilecki-Institut, Pariser Platz 4A, 10117 Berlin, dienstags bis sonntags, 10-18 Uhr. Online: hier

Haben Sie Feedback? Schreiben Sie uns! briefe@berliner-zeitung.de

QOSHE - Pilecki-Institut: In Polen gab es Frauenwahlrecht früher als in Deutschland - Tomasz Kurianowicz
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Pilecki-Institut: In Polen gab es Frauenwahlrecht früher als in Deutschland

15 1
21.03.2024

Es gibt Klischees, die stimmen einfach. Über die Polen sagt man etwa, dass sie eine besondere Freiheitsliebe hätten, ein spezielles Verhältnis zur Nation und zur Unabhängigkeit. Man sagt, dass sie aufmüpfig seien, sich nicht kontrollieren ließen und einen besonderen Hang zur Renitenz hätten.

Wer nun die aktuelle Ausstellung im Pilecki-Institut „Doppelt frei“ besucht, bekommt Zahlen, Daten und Fakten vorgeführt, die dieses tradierte Bild über die revolutionären Polen historisch stützen. Dabei ist das Thema dieser Ausstellung besonders klug gewählt: Die Schau thematisiert den Freiheitkampf polnischer Frauen und ihren doppelten Kampf um die Unabhängigkeit Polens und um die Erringung des Frauenwahlrechts.

Dabei muss gesagt und unterstrichen werden, dass Polen eines der ersten Nationen in Europa war, in dem Frauen wählen durften. Auf einer Schautafel am Eingang des Pilecki-Instituts, das am Pariser Platz gelegen ist, wird dies graphisch verdeutlicht: Mit der Gründung der Zweiten Polnischen Republik 1918 durch Józef Piłsudski wurden alle Polinnen zu Bürgern ernannt und erhielten das aktive und passive Wahlrecht. Sie wurden also Männern gleichgestellt. Deutschland folgte mit einem ähnlichen Gesetz ein Jahr später, die USA stimmten für das Frauenwahlrecht im Jahr 1920, Großbritannien 1928, Frankreich erst im........

© Berliner Zeitung


Get it on Google Play