Man konnte es in der Corona-Zeit beobachten: Plötzlich traten Menschen, die zuvor nicht einmal den Begriff Pandemie gekannt hatten, als kenntnisreiche Virologen und Mediziner auf. In den sozialen Medien wurden Urteile über „das Virus“ gefällt, das angeblich nicht nachgewiesen werden könne, absolut harmlos sei und so weiter. In Zeiten des Ukrainekriegs entpuppten sich Menschen plötzlich als Militärstrategen und Welt-Politiker, die vorher gar nicht gewusst hatten, wo die Ukraine überhaupt liegt.

Oft hört man in diesem Zusammenhang den Begriff Dunning-Kruger-Effekt. Dieser wird gerade in den sozialen Medien immer wieder erwähnt, um jemandem zu attestieren, dass er sich für besonders schlau halte, gerade weil er besonders dumm sei. Der Begriff bezieht sich auf eine Theorie, die 1999 von den Psychologen David Dunning und Justin Kruger vorgestellt wurde. Demnach überschätzen sich gerade im jeweiligen Bereich wenig kenntnisreiche Menschen, weil sie nicht einmal ahnen, was sie alles nicht wissen.

Dunning war Professor an der Cornell University. Kruger machte dort 1999 seinen Doktor in Sozialpsychologie, war also sein Doktorand. Beide erforschten den von ihnen in Studien erkannten Effekt in verschiedenen Experimenten. Sie kamen zu dem Schluss, dass weniger kompetente Personen dazu neigten, ihre Fähigkeiten zu überschätzen, überlegene Fähigkeiten bei anderen nicht zu erkennen, das Ausmaß ihrer Inkompetenz nicht richtig einzuschätzen. „Wenn man inkompetent ist, kann man nicht wissen, dass man inkompetent ist“, erklärte Dunning einmal. „Die Fähigkeiten, die Sie benötigen, um eine richtige Antwort zu geben, sind genau die Fähigkeiten, die Sie benötigen, um zu erkennen, was eine richtige Antwort ist.“

Kurz: Wenn man nicht einmal ahnt, wie der Stand der Wissenschaften in der Virologie ist, dann kann man seine eigenen Grenzen kaum erkennen. Wahres Wissen beginnt mit dem eigenen Bewusstsein darüber, was man alles nicht weiß. Der Dunning-Kruger-Effekt tritt den Darstellungen zufolge beim scheinbaren Wissen über Dinge auf, zu dem es gar kein gesichertes Wissen gibt, aber auch bei Halbwissen – also etwa dann, wenn man sich einiges über Virologie, Astronomie oder Medizin angelesen hat und nun glaubt, selbst Bescheid zu wissen.

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Interessant ist dabei, dass der Effekt in der psychologischen Fachliteratur nur selten angeführt wird, wie es heißt. Stattdessen findet man ihn häufig in Blogs, Diskussionsforen im Internet und bei Auseinandersetzungen in sozialen Medien. Die Forscher selbst haben zwiespältige Gefühle dabei. Es sei zwar toll, so viel öffentliche Bekanntheit zu haben, sagte David Dunning kürzlich in einem Podcast des Journals Scientific America. Er würde sich aber wünschen, der Begriff würde nicht als Schimpfwort benutzt, „denn es geht wirklich darum, über sich selbst nachzudenken und zu wissen, dass es Dinge geben könnte, die man nicht weiß. Es geht nicht darum, über andere Menschen zu urteilen.“

Unter Fachleuten ist der Begriff zum Teil umstritten, mitunter wird er auch belächelt. In der Öffentlichkeit aber hat er eine große Fangemeinde. Denn wohl jeder Mensch hat ab und zu den Eindruck, dass sein Gegenüber von einem Thema herzlich wenig Ahnung hat, sich selbst aber für den größten Kenner hält. „Das begegnet einem im Alltag doch recht oft“, sagt Sozialpsychologe Hans-Peter Erb von der Universität der Bundeswehr in Hamburg. „Die am lautesten schreien, sind meist die mit der wenigsten Ahnung.“

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Vielleicht sollte man auch bei sich selbst schauen, ob man dazu neigt, von sich selbst überzeugt mitzudiskutieren, obwohl man über ein Thema nur rudimentäres Wissen besitzt. David Dunning betont, dass es nicht um Dummheit gehe. Der Effekt treffe jeden früher oder später mal in einem speziellen Bereich. Schließlich wisse ein Kunstkenner nicht zwingend auch viel über Medizin. Und auch Dunning selbst verweist auf das Beispiel der Corona-Pandemie, in der Nicht-Fachleute wie Juraprofessoren vermeintlich bahnbrechende, tatsächlich aber vollkommen abwegige Ergebnisse präsentierten.

Der paradoxe Hang zur Selbstüberschätzung kann Dunning und Kruger zufolge bei Wenig-Wissern dazu führen, dass sie selbstbewusst unsinnige Entscheidungen treffen. Das kann gefährlich sein. Und zwar für den Betroffenen selbst, wenn er sich nach Google-Recherche eine medizinische Diagnose stellt oder nach drei Lehrvideos für den neuen Börsenexperten schlechthin hält. Aber auch für andere, wenn der 18-jährige Fahranfänger meint, besser zu fahren als alle anderen. Und für Unternehmen, wenn Angestellte die Tragweite ihres Tuns nicht überblicken.

Das Phänomen beruht nach Darstellung der beiden amerikanischen Sozialpsychologen darauf, dass Menschen generell schlecht darin sind, ihr Wissen, ihre Fähigkeiten oder ihre Leistung realistisch einzuschätzen: Mehr als 90 Prozent der amerikanischen Autofahrer sind Untersuchungen zufolge überzeugt, überdurchschnittlich gute Fahrer zu sein. „Und bei Befragungen zum eigenen Beitrag zur Hausarbeit liegt der Gesamtwert der Familien meist deutlich bei über 100 Prozent“, erklärt der Sozialpsychologe Hans-Peter Erb. Mathematisch kann der Wert nicht über 100 Prozent liegen – einzelne Familienmitglieder überschätzen ihren Beitrag also.

Auch beim Sport, bei Finanzfragen oder bei Ansichten zur Klimakrise wird deutlich: Menschen glauben schnell von sich, dass sie sich bestens auskennen und mitreden können, wenn sie nicht sogar bereits die perfekte Lösung parat haben. Lange bevor es unzählige Virologen, Klima- oder Militärexperten gab, hatte es den Effekt schon in anderen Bereichen gegeben, etwa in Form selbsternannter Fußballexperten. Vor jedem Fernseher sitzt ein verkannter Bundestrainer.

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Auf die Spur gekommen waren Dunning, inzwischen an der University of Michigan, und Kruger, derzeit an der New York University, dem Effekt bei Testreihen mit Studenten. Diese sollten Fragebögen bearbeiten und am Ende einschätzen, wie gut sie wohl im Vergleich zu den anderen abschnitten. Ausgerechnet unter den schlechtesten 25 Prozent glaubten viele von sich, weitaus besser zu liegen – und das selbst dann noch, wenn sie die Bögen der besten Teilnehmer zu sehen bekamen. Sie waren den Aussagen der Forscher zufolge schlichtweg nicht in der Lage, die eigene Inkompetenz zu bemerken sowie die Kompetenz von Menschen mit mehr Fachwissen zu erkennen – und anzuerkennen. Besonders gut abschneidende Probanden hingegen unterschätzten ihre Leistung eher.

Gemeinsam mit Carmen Sanchez von der Cornell University in New York legte Dunning 2018 weitere Ergebnisse vor. Demnach führt vor allem zu deutlichen Dunning-Kruger-Effekten, wenn Menschen „ein bisschen was“ von einer Sache wissen. Verschiedene Tests zeigten, dass Einsteiger zunächst mit Respekt an eine Sache herangehen. Sobald sie aber erste kleine Kompetenzen erworben haben, neigen sie zu gravierender Selbstüberschätzung. Ein wenig Erfahrung – und das Ego galoppiert der Leistung davon.

Doch warum existiert eine solche kognitive Verzerrung überhaupt, wenn sie doch so viele negative Folgen haben kann? Zum einen stärkt Selbstüberschätzung das Selbstwertgefühl und das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, wie Hans-Peter Erb erklärt. Das könne sich auch positiv auf die Gesundheit auswirken. „Und wer sich selbst mehr zutraut, erreicht meist auch mehr.“ Von sich überzeugte Unwissende kämen im Beruf oft weiter als klügere Tiefstapler. Man begegnet dem Effekt oft in Chefetagen und Politikerkreisen.

Das liege auch am Einfluss auf andere: Selbstüberschätzer würden oft als besonders kompetent und entschlussfreudig wahrgenommen, sagt Erb. Fachkundigen sei die Komplexität einer Materie viel stärker bewusst – umso geringer sei ihr Selbstvertrauen angesichts der Fülle von Vorbehalten und zu berücksichtigenden Details. So triumphiert oft der Einfaltspinsel, der im Brustton der Überzeugung Unsinn verbreitet, über den unsicherer wirkenden und zweifelnden Klügeren.

Einschätzungen wie „Das ist nicht eindeutig, es gibt Argumente dafür und dagegen“ wolle die Öffentlichkeit ohnehin kaum noch hören, sagt der Sozialpsychologe. Vermeintlich einfache Lösungen seien weitaus beliebter, zumal die Informationsvermittlung generell seit Jahrzehnten verflache. Auf die Spitze treibe das der frühere Präsident der Vereinigten Staaten, Donald Trump, der gerade Anlauf für eine mögliche erneute Präsidentschaft nimmt. Seine schlichten Phrasen kämen bei einer bestimmten Klientel sehr gut an. Ob Trump aus Kalkül so agiere oder weil er selbst stark vom Dunning-Kruger-Effekt betroffen sei, lasse sich nicht sicher sagen, so Erb.

Der Dunning-Kruger-Effekt mag manche Karriere stützen – für die Betroffenen bedeutet er auch eine Falle: Wer sich schon für allwissend hält, nutzt seltener Chancen, sich weiterzubilden. Und er wertet andere häufiger ungerechtfertigt ab. „Es ist darum sehr wichtig, sich selbst immer wieder klarzumachen, dass man sich in vielen Bereichen leicht selbst überschätzt“, betont Erb. Menschen in anderen, weniger auf Individualismus fokussierten Kulturen gelinge das oft besser, erklärt der Sozialpsychologe. Analysen in Japan zeigten zum Beispiel, dass die Menschen dort ihre Fähigkeiten eher unterschätzen und dadurch motivierter sind, sich stetig zu verbessern.

In der Fachliteratur hat der Dunning-Kruger-Effekt kaum Eingang gefunden – wohl auch, weil er gar zu trivial scheint. Schon der englische Dichter William Shakespeare fügte vor mehr als 400 Jahren in sein Theaterstück „Wie es euch gefällt“ den Satz ein: „The fool doth think he is wise, but the wise man knows himself to be a fool“, übersetzt: „Der Narr meint, er sei weise, doch der weise Mann weiß, dass er ein Narr ist.“ Oder wie der britische Komiker John Cleese es ausdrückte: „Wenn du wirklich, wirklich dumm bist, dann ist es für dich unmöglich zu wissen, dass du wirklich, wirklich dumm bist.“

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Darüber hinaus gibt es durchaus kritische Stimmen zur Originalarbeit von 1999. Der Mathematiker Eric Gaze vom Bowdoin College in Brunswick, USA, gab im vergangenen Jahr auf der Akademiker-Plattform The Conversation zu bedenken, dass der mathematische Ansatz, mit dem der Effekt nachgewiesen wurde, möglicherweise falsch ist. „Der Dunning-Kruger-Effekt entstand nicht anhand der tatsächlichen Ergebnisse, sondern daran, wie Studenten sich mit anderen verglichen“, schrieb Gaze. Er übertreibe die Selbstüberschätzung der unteren 25 Prozent maßlos und scheine zu zeigen, dass die Studenten dieser Gruppe „unqualifiziert und ahnungslos“ seien, wie es ja auch im Titel der Originalarbeit heißt. Wenn Studenten dagegen gebeten würden, ihre Fähigkeiten objektiv einzuschätzen, schnitten sie viel besser ab, als wenn sie sich mit ihren Mitstudenten vergleichen.

Gaze hatte den Effekt gemeinsam mit anderen Forschern schon in einer 2017 vorgestellten Studie hinterfragt. Das statistische Artefakt ist als „Regression zum Mittelwert“ bekannt: Menschen, die bei einem Test sehr schlecht abschneiden, können sich fast nur überschätzen. Wer sehr gute Leistungen erbringt, kann sich hingegen leicht unterschätzen. Zu berücksichtigen sei zudem, dass generell der überwiegende Teil der Menschen davon ausgehe, besser als der Durchschnitt zu sein. So glaubten etwa 90 Prozent der Lehrer, sie seien qualifizierter als ihre Kollegen. Diese Überschätzung betreffe eben auch die am wenigsten begabten Menschen, erläuterte Gaze. Ihre objektive Leistung schätzten Teilnehmer mit den niedrigsten Punktzahlen bei derartigen Tests nicht wesentlich ungenauer ein als die mit höheren. Generell gelte, dass Experten ihre Fähigkeiten genauer einschätzen als Anfänger und Frauen im Mittel besser als Männer.

Der Dunning-Kruger-Effekt sei eher ein Artefakt des Forschungsdesigns als eine Verzerrung im menschlichen Denken, ist Gaze überzeugt. Dunning erklärte dazu, dass für die Kritik nur die ursprüngliche Studie berücksichtigt werde. Es habe danach aber eine Reihe von Studien gegeben, in denen die „Regression zum Mittelwert“ geprüft worden sei. Diese 25 Jahre Forschung würden ignoriert. Wenn es auch womöglich statistisch bedingte Einschränkungen gebe, am Zusammenhang an sich zweifle er nicht, sagt der Sozialpsychologe Hans-Peter Erb. „Ich glaube an den Dunning-Kruger-Effekt.“ (dpa/fwt, BLZ)

QOSHE - Wenn Inkompetente sich überschätzen: Was ist dran am Dunning-Kruger-Effekt? - Torsten Harmsen
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Wenn Inkompetente sich überschätzen: Was ist dran am Dunning-Kruger-Effekt?

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24.04.2024

Man konnte es in der Corona-Zeit beobachten: Plötzlich traten Menschen, die zuvor nicht einmal den Begriff Pandemie gekannt hatten, als kenntnisreiche Virologen und Mediziner auf. In den sozialen Medien wurden Urteile über „das Virus“ gefällt, das angeblich nicht nachgewiesen werden könne, absolut harmlos sei und so weiter. In Zeiten des Ukrainekriegs entpuppten sich Menschen plötzlich als Militärstrategen und Welt-Politiker, die vorher gar nicht gewusst hatten, wo die Ukraine überhaupt liegt.

Oft hört man in diesem Zusammenhang den Begriff Dunning-Kruger-Effekt. Dieser wird gerade in den sozialen Medien immer wieder erwähnt, um jemandem zu attestieren, dass er sich für besonders schlau halte, gerade weil er besonders dumm sei. Der Begriff bezieht sich auf eine Theorie, die 1999 von den Psychologen David Dunning und Justin Kruger vorgestellt wurde. Demnach überschätzen sich gerade im jeweiligen Bereich wenig kenntnisreiche Menschen, weil sie nicht einmal ahnen, was sie alles nicht wissen.

Dunning war Professor an der Cornell University. Kruger machte dort 1999 seinen Doktor in Sozialpsychologie, war also sein Doktorand. Beide erforschten den von ihnen in Studien erkannten Effekt in verschiedenen Experimenten. Sie kamen zu dem Schluss, dass weniger kompetente Personen dazu neigten, ihre Fähigkeiten zu überschätzen, überlegene Fähigkeiten bei anderen nicht zu erkennen, das Ausmaß ihrer Inkompetenz nicht richtig einzuschätzen. „Wenn man inkompetent ist, kann man nicht wissen, dass man inkompetent ist“, erklärte Dunning einmal. „Die Fähigkeiten, die Sie benötigen, um eine richtige Antwort zu geben, sind genau die Fähigkeiten, die Sie benötigen, um zu erkennen, was eine richtige Antwort ist.“

Kurz: Wenn man nicht einmal ahnt, wie der Stand der Wissenschaften in der Virologie ist, dann kann man seine eigenen Grenzen kaum erkennen. Wahres Wissen beginnt mit dem eigenen Bewusstsein darüber, was man alles nicht weiß. Der Dunning-Kruger-Effekt tritt den Darstellungen zufolge beim scheinbaren Wissen über Dinge auf, zu dem es gar kein gesichertes Wissen gibt, aber auch bei Halbwissen – also etwa dann, wenn man sich einiges über Virologie, Astronomie oder Medizin angelesen hat und nun glaubt, selbst Bescheid zu wissen.

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Interessant ist dabei, dass der Effekt in der psychologischen Fachliteratur nur selten angeführt wird, wie es heißt. Stattdessen findet man ihn häufig in Blogs, Diskussionsforen im Internet und bei Auseinandersetzungen in sozialen Medien. Die Forscher selbst haben zwiespältige Gefühle dabei. Es sei zwar toll, so viel öffentliche Bekanntheit zu haben, sagte David Dunning kürzlich in einem Podcast des Journals Scientific America. Er würde sich aber wünschen, der Begriff würde nicht als Schimpfwort benutzt, „denn es geht wirklich darum, über sich selbst nachzudenken und zu wissen, dass es Dinge geben könnte, die man nicht weiß. Es geht nicht darum, über andere Menschen zu urteilen.“

Unter Fachleuten ist der Begriff zum Teil umstritten, mitunter wird er auch belächelt. In der Öffentlichkeit aber hat er eine große Fangemeinde. Denn........

© Berliner Zeitung


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