Kriminelle Großfamilien sind nicht nur ein Thema in Berlin: Im Stuttgarter „Tatort“ überfallen drei maskierte Täter kurz vor Ladenschluss einen Juwelier. Eine Kundin wird so brutal misshandelt, dass sie stirbt. Die Kriminalisten verdächtigen sofort eine Familie mit Wurzeln in Kasachstan, der zuvor schon ähnliche Überfälle zugeschrieben wurden. In Berlin würde den Polizisten bei solchem Vorgehen wohl automatisch Rassismus gegen Migranten unterstellt. Hier aber müssen sie sich anderen Vorwürfen stellen.

Die Kommissare Lannert und Bootz (Richy Müller und Felix Klare) versuchen nämlich, den 13-jährigen David (Louis Guillaume) zu einer Aussage gegen seine Cousins zu bewegen. Die Zuschauer haben zu Beginn des Films gesehen, dass David tatsächlich beim Überfall Schmiere stand und sogar die Flucht der Kundin verhindert hat. Doch die kampfeslustige Sozialarbeiterin Annerosa (Caroline Cousin), die den Jungen in einem Jugendheim betreut und alle Polizisten für die „Befehlsempfänger“ des Staates hält, verhindert, dass Lannert und Bootz dem Strafunmündigen ihre Fragen stellen.

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19.01.2024

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19.01.2024

19.01.2024

Der Autor Sönke Lars Neuwöhner, der schon die Drehbücher für Dutzende TV-Krimis verfasst hat, widmet sich diesmal nicht der Frage, wer der Mörder gewesen sein mag, sondern er stellt den Kampf um die Seele eines Heranwachsenden ins Zentrum. Und das ist tatsächlich aufregender: Denn David steht in seinem dramatischen Loyalitätskonflikt zwischen drei Fronten. Alle Seiten versuchen, ihn für ihre Zwecke einzuspannen – selbst die übermotivierte Sozialarbeiterin, die nicht nur Davids Freiheit verteidigen will, sondern sich im Widerstand „gegen das System“ wähnt.

Davids hochkriminelle Cousins sind ganz klar die eigentlichen Täter und nennen ihn ihren „Joker“, weil er wegen seines Alters nicht ins Gefängnis gehen muss. Leider werden die beiden dreisten Typen ziemlich einschichtig gespielt von Nils Hohenhövel und Oleg Tikhomirov – letzterer verkörperte im Kölner „Tatort: Pyramide“ vor einer Woche als windiger Anlageberater eine spannendere Figur. Druck auf David kommt auch von seinem Vater (Urs Rechn), der im Gefängnis sitzt und ihm eintrichtert, dass die Familie alles sei, was er habe.

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Als „schwächstes Glied der Kette“ wiederum sieht ihn Thorsten Lannert – und versucht, David mit seinem Porsche zu begeistern, lässt ihn sogar mal ans Lenkrad. Sein Kollege Sebastian Bootz dagegen will die störrische Jugendbetreuerin, die einen großen Einfluss auf den Jungen hat, zur Kooperation bewegen – und fragt sich insgeheim, ob sie mit ihren Vorwürfen gegen die Polizisten nicht sogar Recht habe.

Die Aufgaben zwischen den beiden Kommissaren sind überhaupt gut verteilt, zum Beispiel bei einer „Tatort“-typischen Verfolgungsjagd, die fast schon parodiert wird. Bootz rennt, springt und klettert noch vergeblich einem flüchtigen Zeugen hinterher, nur um hinterher einzusehen: „Parcours ist scheiße“, während Lannert von vornherein seine angegriffenen Knie schonen will und gar nicht erst losrennt.

Der 15-jährige Hauptdarsteller Louis Guillaume spielt hier überzeugend einen Jungen, der äußerlich noch wie ein Kind wirkt, seine Zerrissenheit aber hinter einer coolen Verschlossenheit zu verstecken versucht. Der Regisseur Martin Eigler hat dazu Bilder kreiert, die zeigen, wie David in seinen Wunschträumen dem Drama entfliehen will. Immer wieder sieht er seinen größeren Bruder neben sich, der ihn beschützen wollte, aber mit dem Auto gegen einen Baum gerast war. Dazu ist David heimlich verliebt in seine Betreuerin Annerosa, mit der er am liebsten flüchten würde. Doch seine kriminelle Familie kennt kein Entkommen und kein Erbarmen. Seine Cousins drücken ihm schließlich sogar eine Pistole in die Hand.

Tatort: Zerrissen. Sonntag, 21. Januar, 20.15 Uhr, ARD (+ Mediathek)

QOSHE - „Tatort: Zerrissen“ aus Stuttgart: Pistole für einen 13-Jährigen - Torsten Wahl
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„Tatort: Zerrissen“ aus Stuttgart: Pistole für einen 13-Jährigen

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21.01.2024

Kriminelle Großfamilien sind nicht nur ein Thema in Berlin: Im Stuttgarter „Tatort“ überfallen drei maskierte Täter kurz vor Ladenschluss einen Juwelier. Eine Kundin wird so brutal misshandelt, dass sie stirbt. Die Kriminalisten verdächtigen sofort eine Familie mit Wurzeln in Kasachstan, der zuvor schon ähnliche Überfälle zugeschrieben wurden. In Berlin würde den Polizisten bei solchem Vorgehen wohl automatisch Rassismus gegen Migranten unterstellt. Hier aber müssen sie sich anderen Vorwürfen stellen.

Die Kommissare Lannert und Bootz (Richy Müller und Felix Klare) versuchen nämlich, den 13-jährigen David (Louis Guillaume) zu einer Aussage gegen seine Cousins zu bewegen. Die Zuschauer haben zu Beginn des Films gesehen, dass David tatsächlich beim Überfall Schmiere stand und sogar die Flucht der Kundin verhindert hat. Doch die kampfeslustige Sozialarbeiterin Annerosa (Caroline Cousin), die den Jungen in einem Jugendheim betreut und alle Polizisten für die „Befehlsempfänger“ des........

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