Der Vorhang. René Pollesch ist der Vorhang. Der Vorhang aus der Eröffnungsinszenierung, mit dem der im Februar gestorbene Volksbühnen-Intendant 2021 seine Amtszeit begann: „Aufstieg und Fall eines Vorhangs“ hieß das Stück, Leonard Neumann, Bert Neumanns Sohn, hatte den Vorhang zum Bühnenbild erklärt für einen selbstreflexiven Abend von Artisten, die eigentlich schon ein bisschen müde sind und denen die Gegenwart nichts sagt. Die Kritiken waren gemischt. Auch der hier schreibende Berichterstatter war seinerzeit nur mittelbegeistert, es schien ihm ja nur ein Pollesch-Abend von unendlich vielen, die noch folgen würden.

Und nun, von wegen unendlich!, sieht er diesen Vorhang wieder. Diese Haut zwischen hier und da, zwischen Schein und Sein, zwischen Spiel und Ernst, dieser leichte, leuchtende Baldachin, der durch den Raum schwebt, sich wölbt und faltet, Räume verhüllt und Luft streichelt. Heute Abend spielt der Vorhang hier auch die Trennung oder Verbindung von Leben und Tod mit.

Die Leute an den Zügen, an denen der Stoff befestigt ist, verbringen wahre Wunder, klar, Volksbühnencrew! Sie hauchen dem Fetzen Leben ein, die Lichtleute bemalen ihn mit leuchtenden Streifen, Wellen und Schatten. Zwei oder dreimal ist deutlich zu sehen, wie René Pollesch von oben gegen den fliegenden Himmel über der Bühne bläst und wie er oder zumindest seine Seele zu uns herabtaucht. Pardon, ist ein bisschen kitschig, aber es überliefert eine Ahnung von dem, was am Abend zu erleben war, in den drei Stunden am Donnerstag, als das Haus am Rosa-Luxemburg-Platz und seine Belegschaft, als seine Schauspieler und Musiker, als seine Zuschauer Abschied nahmen von René Pollesch.

Außer dem Vorhang halten drei Umbau-Clowns das Programm zusammen, gespielt von Martin Wuttke, Milan Peschel und Trytan Pütter in den roten Jumpsuits und mit Cowboy-Hüten. Wir erinnern uns, das sind die drei aus „Volksbühnen-Diskurs“. Das war noch zu Castorf-Zeiten. Slapsticks mit nicht ungefährlichen Mikrofonständern, Kartoffeln in der Hose, rutschigem Bodenwischer, verlorenen Hüten und verlorenem Gleichgewicht. Sehr konzentriert und routiniert dargeboten an diesem traurigen Abend, und so lustig.

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Szenen, viele Monologe, Choreografien und Chorgesang aus Pollesch-Stücken werden angespielt und durchgezogen. Fabian Hinrichs spricht sich Mut mit einem langem U zu, springt aus dem Zugturm und nimmt sich die Bühne für kompilierte Einsamkeitsrufe aus seinen Pollesch-Jammeriaden: „Warum rufst du mich nicht an? Du hast doch meine Nummer?“ Wuttke rollt Metatexte aus, um uns noch einmal einhaken und den Faden verlieren zu lassen, irgendwas mit Schauspielern, die an Mikrofonen zappeln und ihre Seele in die Dunkelheit projizieren. „Dies ist eine Rückrufaktion“, sagt er später an, und bei dem Wort bewegt sich der Vorhang kurz.

Dirk von Lowtzow ist der erste, der einfach aus dem Augenblick spricht und sich mit zwei Liedern von seinem Freund verabschiedet, von Polleschs utopischer Schaffenspraxis spricht, die sich hier in diesem Haus, in dieser Stadt, bei diesen Leuten abgelagert hätte und die weitergetragen werde. Er bedankt sich für die Gedanken, „die einem zugleich den Boden unter den Füßen wegrissen und uns ein Lächeln ins Gesicht zauberten“. Er sagt tatsächlich zaubern. Und der Boden ist tatsächlich weg, aber der Vorhang schwebt leicht und sicher, kann ein Vorhang lächeln?

Florentina Holzinger und ihre nackte Mannschaft aus Seefrauen erklären Pollesch postum zum Kapitän, gar zu Jesus Christ Superstar. Kathrin Angerer läuft verloren wie nie an der Rampe entlang und sucht nach dem Drama. Ein Witwenchor, angeführt von Sophie Rois, konkurriert mit einer authentischen Kuh, die die traurigsten Augen von allen macht. Und was noch alles!

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Viel ist von Zeitanhalten, von Alleingelassensein und von Berappeln die Rede und mindestens einen Alarmruf gibt es in Richtung Kultursenator Joe Chialo, der jetzt hier bloß nichts kaputt machen soll, weil es sich an diesem Abend doch noch so heil und zusammen und gegenwärtig anfühlt, und auch ein bisschen zu klein und zu eng für die Ewigkeit und die Leere, in die Pollesch vorausgegangen ist.

Jeder im Saal wird zwischen den schönen und so irritierend lebendigen Erinnerungen seinen Trauermoment gefunden haben. Meiner war der mit der Kokosnuss, die Franz Beil unter den Eisernen Vorhang legte. Die Feuerschutzwand senkte sich mit Alarmklingeln, ließ den fliegenden Vorhang verschwinden, traf unerbittlich auf die Nuss und zerdrückte sie, als wäre sie eine Seifenblase. Nur dass es knackte mit einem Geräusch, das einem in den Brustkasten fuhr und tiefer ins Herz, in dem es leise mitknackte.

QOSHE - „Dies ist eine Rückrufaktion“: Wie die Volksbühne Abschied von René Pollesch feiert - Ulrich Seidler
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„Dies ist eine Rückrufaktion“: Wie die Volksbühne Abschied von René Pollesch feiert

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26.04.2024

Der Vorhang. René Pollesch ist der Vorhang. Der Vorhang aus der Eröffnungsinszenierung, mit dem der im Februar gestorbene Volksbühnen-Intendant 2021 seine Amtszeit begann: „Aufstieg und Fall eines Vorhangs“ hieß das Stück, Leonard Neumann, Bert Neumanns Sohn, hatte den Vorhang zum Bühnenbild erklärt für einen selbstreflexiven Abend von Artisten, die eigentlich schon ein bisschen müde sind und denen die Gegenwart nichts sagt. Die Kritiken waren gemischt. Auch der hier schreibende Berichterstatter war seinerzeit nur mittelbegeistert, es schien ihm ja nur ein Pollesch-Abend von unendlich vielen, die noch folgen würden.

Und nun, von wegen unendlich!, sieht er diesen Vorhang wieder. Diese Haut zwischen hier und da, zwischen Schein und Sein, zwischen Spiel und Ernst, dieser leichte, leuchtende Baldachin, der durch den Raum schwebt, sich wölbt und faltet, Räume verhüllt und Luft streichelt. Heute Abend spielt der Vorhang hier auch die Trennung oder Verbindung von Leben und Tod mit.

Die Leute an den Zügen, an denen der Stoff befestigt ist, verbringen wahre Wunder, klar, Volksbühnencrew! Sie hauchen dem Fetzen Leben ein, die Lichtleute bemalen ihn mit leuchtenden Streifen, Wellen und Schatten. Zwei oder dreimal ist deutlich zu sehen, wie René Pollesch von oben gegen........

© Berliner Zeitung


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