Am Nachmittag des 23. September 2023 bekommt in Cottbus der syrische Vater Abdullah A. einen Anruf mit der Bitte, seinen Sohn von der Schule abzuholen. Die Diagnose: Halswirbelsäulen-Schleudertrauma und Prellungen. Verursacht durch einen Tisch, der gegen den Brustkorb gedrückt wurde. Der Täter: Sein Lehrer. Der sagt, er wurde provoziert. Die Medien wittern Rassismus. Der Schulleiter streitet das ab. War da nun Rassismus im Spiel? Oder nicht?

Dieser Vorfall bringt mich dazu, die Situation aus einer neuen Sicht zu reflektieren. Und zwar aus der eines Lehrers. Ich bin angehender Lehrer. Und ich bin ein Rassist.

Ich kenne das Gefühl der Ohnmacht im Klassenzimmer. Schüler:innen können mit Worten sehr grausam sein, und sie können provozieren ohne Ende. Deshalb darf ich natürlich nicht handgreiflich werden, aber das Bedürfnis hatte ich schon einige Male.

Wenn Sie nun einen prügelnden Thor-Steinar-Fan vor Augen haben, der die AfD für eine Alternative für Deutschland hält und gegen Geflüchtete wettert, irren Sie sich. Ich habe immer links, rot oder grün gewählt, unterstütze Geflüchtete und habe mich noch nie geprügelt. Ich habe selbst eine Fluchtgeschichte. Mein Vater ist Chinese, meine Mutter Vietnamesin. Ich hätte die Frage, ob ich selbst rassistische Einstellungen habe, immer verneint.

Ein anerkannter Rassismus-Test auf der Online-Seite der Harvard University hat mich eines Besseren belehrt. Dieser Fragebogen hat es in sich, ist fälschungssicher konzipiert und spuckt in weniger als zehn Minuten ein Gutachten aus. Dort wurde mir bescheinigt, dass ich Hellhäutige (meint: Weiße) gegenüber nicht hellhäutigen Menschen (z.B. Schwarze und Araber:innen) bevorzuge, sie als intelligenter, fleißiger und friedlicher einstufe. Das hat gesessen. Ich Rassist? Unmöglich.

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31.03.2024

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gestern

Ich war als Jugendlicher mit vielen Menschen aus der ghanaischen Community befreundet. Zu meinen engsten Vertrauten zählen ein Ägypter, ein Syrer und ein Tunesier. Alles Araber. Wie kann das sein? Nehmen wir mal an, ich hätte – gegen meine eigene Überzeugung – Vorurteile gegenüber Nichtweißen, was bedeutet das für mich als Lehrer?

Wir wissen aus der „Max versus Murat“-Studie von der Universität Mannheim, dass Lehrkräfte Schüler:innen mit nicht weißen Namen bei identischen Leistungen schlechtere Noten geben: Wer Max oder Hannah heißt, schneidet besser ab als Murat und Hatice. In meinen Klassen sind viele Murats und Maxe, viele Hatices und Hannahs. Vergebe ich Noten ungerecht? Auf keinen Fall, würde ich sagen: Das wäre ja rassistisch!

So oder so ähnlich dürften die 206 Lehramtsstudent:innen, die bei der Studie befragt wurden, auch reagiert haben. Wer will in einem Land, in dem der Holocaust erfunden wurde, schon Rassist sein? Deutschland ist das einzige Land auf der Erde, wo sich sogar Neonazis dagegen wehren, als Rassisten bezeichnet zu werden. Was sagen die Fakten?

Wir wissen, dass wir Lehrkräfte nicht weißen Menschen auffällig oft die Gymnasialempfehlungen verwehren. Wir wissen, dass wir Lehrpersonal fast ausschließlich weiß besetzen, während die Schüler:innen in Klassenzimmern in Duisburg, Berlin und anderen Städten mindestens zur Hälfte nicht weiß sind. Wir wissen, dass die Diversität der Gatekeeper (Schulleitungen, Kultusministerkonferenz, Ausbilder:innen, Lehramtsprofessuren usw.) diametral zur Diversität der Schüler:innenschaft steht.

Wir wissen auch, dass nicht weiße Lehramtsstudierende auffällig häufiger das Studium abbrechen als ihre weißen Kommiliton:innen. Das ist ein Problem. Weiße Lehrkräfte ohne Erfahrung mit Mehrsprachigkeit, hybriden Identitäten, Ramadan, Palästina, Flucht, Racial Profiling, Sintezze-, Juden- oder Muslimhass können sich nicht in Kinder reindenken, denen diese Erfahrungen vertraut sind. Es fehlt das Wissen, um die erforderliche Empathie zu entwickeln, um Debatten zu den Themen Kopftuch, Badekappenpflicht-für-Schwarze, Schweinefleisch-in-Schulkantinen oder Nahost richtig einzuordnen. Ich habe diese auch nicht, aber ich weiß, was ein Migrantentrauma ist.

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Alle meine Onkel und Tanten haben das. Meine Eltern sowieso. Jeder Mensch, der seine Heimat gegen den eigenen Willen aufgegeben hat und auf der Reise nach Europa Todesängste durchleben musste, hat das. Es ist unser Schicksal: Ein Gefühl, das dazu führt, dass man sich minderwertiger als die weiße Mehrheitsbevölkerung fühlt.

Das Gefühl wird verstärkt durch die Viertel, die für uns vorgesehen sind, an den Schulklassen, in die wir gesteckt werden und an den Bullshit-Jobs, die wir machen. Unser gesellschaftliche Rang ist verknüpft mit Räumen der harten körperlichen Erfahrung: Baustellen, Küchen, Toiletten, Taxen oder neuerdings auch Fahrräder, die für Lieferando und Co. Essen ausfahren. Wer eine Etage höher will, muss verhältnismäßig mehr leisten.

Für Lehrerinnen mit Hijab bleibt bis heute in vielen Berufen der Zugang verwehrt. Wer in weißen Domänen Karriere machen will, hat sich nicht selten vorab bewähren müssen im Wettstreit mit weißen Kolleg:innen um die Frage, wer noch reaktionärer ist bei den Reizthemen Migration, Kopftuch, Antisemitismus oder Islam.

Ein Mann mit indischen Wurzeln hat es auf diese Weise sogar in England bis an die politische Spitze geschafft. In Deutschland ist eine Frau mit iranischem Migrationshintergrund gerade dabei, die Parteisensation des Jahrzehnts zu gründen. Muss ich die Rassismen der Weißen verinnerlichen, um die gläserne Decke zu durchbrechen? Es fühlt sich an wie Verrat. Viele spornt es an, es allen zu zeigen, dass wir besser sind als der Ruf. Andere ziehen sich zurück und schmeißen hirnlos Böller durch Krankenwagenfenster.

Ich gehöre zur ersten Gruppe und will Lehrer sein. Deutsch unterrichten. Ein Vorbild sein für nicht weiße Kids. Doch auch mir kommen im Lehreralltag zunehmend Zweifel. Denn auch nicht weiße Lehrkräfte erleben Rassismus. Wir werden nicht verprügelt. Es ist subtiler. Es ist das Gefühl, nicht dazuzugehören, nicht richtig zu sein. Mit meinem Namen, meinen Augen, meinem Körper, meinen Migrantentraumata. Es passt irgendwie nicht in das weiße Kollegium, in die weiße Körperschaft der Bildung. Ist das Rassismus, dass ich in so ziemlich allen Fächern vertreten darf, außer in Deutsch? Kann auch Zufall sein.

Es gibt verschiedene asiatische Stereotype: Zahlen-Nerd, Blumenverkäuferin, Streber:innen, Waisenkind, kauzige Meister (Mister Miyagi, Bruce Lee), Sexworker. Deutschlehrer gehört nicht dazu. Mathe oder Chemie schon eher. Die einzigen asiatischen Kollegen, die ich kenne, sind stereotyp besetzt: Es sind zwei chinesische Kollegen an einem Gymnasium. Der eine übrigens promovierter Germanist. Beide unterrichten Chinesisch und Chemie. Ich kenne nur vier Schwarze Lehrer:innen in Berlin. Der eine unterrichtet Musik, die eine Sport, die anderen beiden haben aufgegeben. Sie haben Englisch unterrichtet. Ist das schon Rassismus?

Warum ist es eigentlich so wichtig, das zu benennen? Die Polizei in Cottbus ermittelt nun, ob der Cottbuser Lehrer rassistisch motiviert gehandelt hat. Reicht es nicht zu wissen, dass wir in einem Land leben, in dem vor noch nicht einmal 100 Jahren Rassismus und Judenhass Staatsräson waren. Ein schweres Päckchen haben da die Urgroßeltern meinen weißen Kolleg:innen mitgegeben. Ich als Mensch ohne Nazi-Hintergrund bin bereit, dieses Päckchen mitzutragen. Denn es macht meinen Unterricht nicht schlechter.

Der Rassismusforscher Karim Fereidooni hat beobachtet, dass Lehrkräfte nicht gerne über Rassismus sprechen. Überrascht haben ihn die Äußerungen von den nicht weißen Lehrkräften. 40 Prozent haben hartnäckig abgestritten, Rassismus erlebt zu haben, obwohl sie eindeutige rassistische Äußerungen erlebt haben. Dieses Phänomen ist bekannt in Deutschland.

Die Erziehungswissenschaftlerin Astrid Messerschmidt nennt es „De-Thematisierungsstrategie“. Ich nenne es den „Weißen Reflex“. Den habe auch ich übernommen, obwohl ich gar nicht weiß bin. Ich bin an den meisten Schulen, in denen ich als Vertretungslehrer gearbeitet habe, der einzige Asiate gewesen, teilweise der einzige Nichtweiße.

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In einer Schule wurde ich beispielsweise aktiv daran gehindert, als Einziger einer internen Fortbildung beizuwohnen. Ich hätte das niemals mit Rassismus in Verbindung gebracht. Erst als ein Kollege kommentierte, dass ich als Asiate ja einen Hang zu Leistungsdruck habe, und das passe nun mal nicht in deren Schulkonzept, wurde ich stutzig. Wurde ich etwa wegen meines asiatischen Körpers zu der Gruppe der autoritären Drill-Chinesen-Väter gepackt? Ich selbst kann dem Asiaten-Klischee wenig abgewinnen. Ich will nicht, dass meine Kinder Ärzt:innen oder Ingenieur:innen werden müssen. Sie bekommen auch kein Klavierunterricht oder müssen unendlich fleißig sein, um geliebt zu werden.

In meinem Unterricht gibt es noch nicht mal Hausaufgaben. Starpianisten wie Lang Lang und Bestsellerautorinnen wie die chinesisch-amerikanische Juristin Amy Chua (Stichwort: „Tiger Mom“) bedienen dieses Asia-Klischee. Für mich hat das eher mit autoritären Erziehungskulturen zu tun als mit Biologie. Ich weiß aus den Psychologie-Kursen in meinem Studium, dass es den Effekt gibt, dass sich Menschen an die fremdbestimmten Stereotype, die ihnen angedichtet werden, anpassen.

Ich hatte mein Coming-out als Rassist vor acht Jahren, als ich das Buch „Deutschland Schwarz-Weiß“ von Noah Sow gelesen habe. Es ist ein bisschen wie bei den Anonymen Alkoholiker:innen. Es beginnt mit Einsicht.

Ich versuche seitdem, meine rassistischen Wissensbestände zu verlernen. Das regelmäßige Hören von Podcasts hilft mir dabei, „trocken“ zu bleiben und nicht rückfällig zu werden. Zu empfehlen ist der „Tupodcast“ (Antischwarzer Rassismus), „Feuer und Brot“ (Feminismus) und „Über Israel und Palästina sprechen“ (Antisemitismus). Es gibt da glücklicherweise so viel. Ich bin also ein trockener Rassist. Und es fühlt sich gut an. Und ich will meinen Kolleg:innen Mut machen: Ihr könnt das auch. Hatice und Murat haben das verdient.

Van Bo Le-Mentzel (Jahrgang 1977) ist Architekt und Autor. Seit 2022 ist Le-Mentzel an der Uni Potsdam eingeschrieben und studiert auf Lehramt. Le-Mentzel ist Gründer der Tiny Foundation und setzt sich ein für politische Bildung und soziale Gerechtigkeit.

Der Autor legt Wert auf die Verwendung von Sonderzeichen zur Sichtbarmachung aller Geschlechter.

Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde. Mit Open Source gibt der Berliner Verlag freien Autorinnen und Autoren sowie jedem Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und honoriert.

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Diversität an deutschen Schulen: Wie rassistisch sind wir Lehrer?

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02.04.2024

Am Nachmittag des 23. September 2023 bekommt in Cottbus der syrische Vater Abdullah A. einen Anruf mit der Bitte, seinen Sohn von der Schule abzuholen. Die Diagnose: Halswirbelsäulen-Schleudertrauma und Prellungen. Verursacht durch einen Tisch, der gegen den Brustkorb gedrückt wurde. Der Täter: Sein Lehrer. Der sagt, er wurde provoziert. Die Medien wittern Rassismus. Der Schulleiter streitet das ab. War da nun Rassismus im Spiel? Oder nicht?

Dieser Vorfall bringt mich dazu, die Situation aus einer neuen Sicht zu reflektieren. Und zwar aus der eines Lehrers. Ich bin angehender Lehrer. Und ich bin ein Rassist.

Ich kenne das Gefühl der Ohnmacht im Klassenzimmer. Schüler:innen können mit Worten sehr grausam sein, und sie können provozieren ohne Ende. Deshalb darf ich natürlich nicht handgreiflich werden, aber das Bedürfnis hatte ich schon einige Male.

Wenn Sie nun einen prügelnden Thor-Steinar-Fan vor Augen haben, der die AfD für eine Alternative für Deutschland hält und gegen Geflüchtete wettert, irren Sie sich. Ich habe immer links, rot oder grün gewählt, unterstütze Geflüchtete und habe mich noch nie geprügelt. Ich habe selbst eine Fluchtgeschichte. Mein Vater ist Chinese, meine Mutter Vietnamesin. Ich hätte die Frage, ob ich selbst rassistische Einstellungen habe, immer verneint.

Ein anerkannter Rassismus-Test auf der Online-Seite der Harvard University hat mich eines Besseren belehrt. Dieser Fragebogen hat es in sich, ist fälschungssicher konzipiert und spuckt in weniger als zehn Minuten ein Gutachten aus. Dort wurde mir bescheinigt, dass ich Hellhäutige (meint: Weiße) gegenüber nicht hellhäutigen Menschen (z.B. Schwarze und Araber:innen) bevorzuge, sie als intelligenter, fleißiger und friedlicher einstufe. Das hat gesessen. Ich Rassist? Unmöglich.

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31.03.2024

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Ich war als Jugendlicher mit vielen Menschen aus der ghanaischen Community befreundet. Zu meinen engsten Vertrauten zählen ein Ägypter, ein Syrer und ein Tunesier. Alles Araber. Wie kann das sein? Nehmen wir mal an, ich hätte – gegen meine eigene Überzeugung – Vorurteile gegenüber Nichtweißen, was bedeutet das für mich als Lehrer?

Wir wissen aus der „Max versus Murat“-Studie von der Universität Mannheim, dass Lehrkräfte Schüler:innen mit nicht weißen Namen bei identischen Leistungen schlechtere Noten geben: Wer Max oder Hannah heißt, schneidet besser ab als Murat und Hatice. In meinen Klassen sind viele Murats und Maxe, viele Hatices und Hannahs. Vergebe ich Noten ungerecht? Auf keinen Fall, würde ich sagen: Das wäre ja rassistisch!

So oder so ähnlich dürften die 206 Lehramtsstudent:innen, die bei der Studie befragt wurden, auch reagiert haben. Wer will in einem Land, in dem der........

© Berliner Zeitung


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