„Es waren keine Polen unter den Opfern.“ Dieser Satz, der in den polnischen Medien immer wieder auftaucht, wenn von Erdbeben, Terroranschlägen oder bewaffneten Konflikten die Rede ist, ist im polnischen Internet zu einem komischen Meme geworden, das zeigt, dass sich die Medien in Polen nicht sehr für die Welt, deren Leid und deren Opfer interessieren, sondern vor allem für sich selbst. Diesmal ist es jedoch anders. Bei dem Angriff auf einen humanitären Konvoi im Gazastreifen wurde auch ein Pole getötet. Deshalb ist zu erwarten, dass der Krieg in Gaza, an den sich die polnischen Medien gewöhnt haben, auch in Polen wieder Interesse wecken wird.

Die Tötung eines polnischen Freiwilligen im Gazastreifen zwang auch Politiker in Polen dazu, über den israelischen Krieg zu sprechen. Und sie sprachen darüber meist eher widerwillig. Nun hat der stellvertretende Sprecher des polnischen Parlaments, Krzysztof Bosak, von der rechtsextremen Partei Konfederacja, Israel eines Kriegsverbrechens beschuldigt – eines gezielten Angriffs auf den Konvoi. Die linke Abgeordnete Anna Maria Zukowska forderte wiederum ein Kriegsgericht für die Verantwortlichen.

Entsetzen über Tod von Gaza-Helfern bei israelischem Angriff

02.04.2024

Der israelische Botschafter in Warschau, Yacov Livne, kritisierte die Reaktion von Bosak und Zukowska. „Die extreme Rechte und die Linke in Polen beschuldigen Israel des vorsätzlichen Mordes bei dem gestrigen Angriff, bei dem Mitglieder einer humanitären Organisation, darunter ein polnischer Staatsbürger, ums Leben kamen.“ Der Botschafter fügte hinzu: „Antisemiten werden immer Antisemiten bleiben und Israel wird ein demokratischer jüdischer Staat bleiben, der für sein Existenzrecht kämpft. Auch zum Nutzen der gesamten westlichen Welt.“

Skrajna prawica i lewica w Polsce oskarżają Izrael o umyślne morderstwo we wczorajszym ataku, w skutek którego śmierć ponieśli członkowie organizacji humanitarnej, w tym obywatel Polski. Wicemarszałek Sejmu i lider Konfederacji Krzysztof Bosak twierdzi, że Izrael popełnia…

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02.04.2024

Polens Außenminister Radoslaw Sikorski antwortete wie folgt: „Es ist nicht das erste Mal, dass die israelische Armee Gewalt anwendet. Vor ein paar Wochen hat sie ihre eigenen Geiseln erschossen.“ Er fügte hinzu, dass er dem Botschafter zu „mehr Bescheidenheit“ raten würde.

Auch der polnische Präsident Andrzej Duda ergriff das Wort. „Meiner Einschätzung nach ist der Herr Botschafter heute das größte Problem für den Staat Israel in seinen Beziehungen zu Polen“, sagte Duda am Donnerstag in einer Erklärung. „Israel sollte der Familie unseres getöteten Bürgers eine Entschädigung zahlen. Es sollte eine angemessene Entschädigung sein“, fügte der polnische Präsident hinzu.

Premierminister Donald Tusk wandte sich auch an den israelischen Premierminister. „Herr Ministerpräsident Netanjahu, Herr Botschafter Livne, die große Mehrheit der Polen hat sich nach dem Hamas-Anschlag mit Israel solidarisch gezeigt. Heute stellen Sie diese Solidarität auf eine harte Probe. Der tragische Anschlag auf die Freiwilligen und Ihre Reaktion wecken verständliche Wut“, schrieb Tusk auf der Plattform X.

Die polnische Beobachtungsstelle für rassistisches und fremdenfeindliches Verhalten, eine Nichtregierungsorganisation, reagierte ebenfalls. „Wir empfinden das Verhalten des israelischen Botschafters als verwerflich und äußerst unverschämt! Unser Zentrum setzt sich seit vielen Jahren für Menschen ein, die aufgrund ihrer Nationalität oder Ethnie verfolgt werden. Wir helfen Menschen aus aller Welt, auch solchen jüdischer Herkunft, und wir werden dies auch weiterhin tun“, heißt es in der Mitteilung des Zentrums.

Die Worte des israelischen Botschafters sind unangemessen und unangebracht. Nichts rechtfertigt das von den IDF begangene Verbrechen gegen die Freiwilligen der Organisation World Central Kitchen. Bosak, obwohl er ein Rechtsextremist ist und ein ehemaliger Aktivist der Allpolnischen Jugend, einer Organisation mit antisemitischem Hintergrund, hatte recht, indem er den Angriff verurteilte.

Und trotzdem muss man bei aller Kritik auf den existierenden Antisemitismus in Polen hinweisen. Laut einer Studie der Universität Warschau gibt mehr als die Hälfte der polnischen Einwohner zu, mit Stereotypen über Juden in Berührung gekommen zu sein, die ihnen nicht gefallen. Und 35 Prozent glauben, dass Juden danach streben, die Welt zu beherrschen.

Der Antisemitismus wird im heutigen Polen bisweilen politisch instrumentalisiert. Manchmal von extremen Kräften wie der rechtsextremen Konfederacja, zu der auch Bosak gehört, der vom israelischen Botschafter kritisiert wurde. Sein Parteivorsitzender, Slawomir Mentzen, sagte einmal: „Wir wollen keine Juden, Schwulen, Abtreibung, Steuern und die EU.“ 2019 erklärte er: „Das ist es, was unsere Wähler am besten erreicht, das ist es, warum unsere Wähler uns zuhören wollen, und das ist es, warum die Wähler uns wählen wollen.“ Mentzen, der heute Abgeordneter ist, erläuterte damals seine Strategie, um Wählerstimmen zu gewinnen: „Man muss den Leuten sagen, dass die Juden unser polnisches Land bekommen werden.“

Weniger als fünf Jahre später, am 12. Dezember 2023, griff ein anderer Politiker der Konfederacja, der Abgeordnete Grzegorz Braun, Menschen, die das jüdische Chanukka-Fest feierten, im polnischen Sejm mit einem Feuerlöscher an.

Antisemitismus kommt in Polen auch im politischen Mainstream vor. Der derzeitige Präsident Andrzej Duda negierte im Wahlkampf 2015 das polnische Verbrechen an den Juden in Jedwabne von 1941, bei dem mehrere Hundert Juden getötet wurden. Jedwabne ist in Polen ein Symbol für die vergessene Mitverantwortung an den Verbrechen gegen die Juden. Polens damaliger linker Präsident Aleksander Kwasniewski entschuldigte sich 2001 für das Massaker; Andrzej Duda sprach 2015 von „verlogenen Anschuldigungen“.

Im März 2018 wollte die PiS-Regierung von Jaroslaw Kaczynski Menschen dafür bestrafen, dass sie über polnische Verbrechen gegen Juden sprechen – eine Änderung des Gesetzes über das Institut des Nationalen Gedenkens sah eine Bestrafung vor. Nach einer Welle der Kritik wurde das neue Gesetz zurückgezogen, das Centre for the Study of Prejudice verzeichnete jedoch einen weiteren Anstieg antisemitischer Einstellungen.

Machtkampf in Israel: Minister Gantz fordert Neuwahlen – Netanjahu informiert

gestern

Polen steht Kopf: Wohnung des Ex-Justizministers wird durchsucht

01.04.2024

Die liberalen und Mitte-links-Kräfte in Polen sind heute sehr vorsichtig, wenn es darum geht, Israel zu verurteilen, weil das schwierige und immer noch nicht aufgearbeitete Erbe des Antisemitismus und dessen Fortbestehen in der polnischen Vorstellungswelt weiterhin die Gesellschaft prägt. „Ich verstehe, dass es unmöglich ist, in einem dicht besiedelten Gebiet zu kämpfen, ohne dass Zivilisten zu Schaden kommen. Und die terroristische Organisation Hamas (…) versteckt sich in Gaza und gefährdet die Zivilbevölkerung“, sagte der ehemalige linke polnische Ministerpräsident und jetzige Europaabgeordnete Wlodzimierz Cimoszewicz am Mittwoch gegenüber dem Radiosender TOK FM. Der Politiker kritisierte jedoch zugleich den Angriff auf den humanitären Konvoi. Es gebe „viele Hinweise“, dass der Angriff absichtlich erfolgt sei.

In der Linken vollzieht sich jedoch ein Generationswechsel, und jüngere Aktivisten fühlen sich oft nicht verpflichtet, die besondere Rolle zu berücksichtigen, die Polen in der jüdischen Geschichte gespielt hat. Wie ihre Kollegen in Westeuropa sehen sie Israel als ein kolonisierendes Land und wiederholen Pro-Hamas-Parolen. Hier muss betont werden, dass es sich eher um studentische Kreise handelt, nicht um parlamentarische Kräfte.

Gleichzeitig stellen dieselben Aktivisten und Publizisten nicht die Frage, warum Juden aus Polen nach dem Krieg so bereitwillig gerade nach Israel gegangen sind. Einer der Gründe für ihre Abwanderung war, dass es nach dem Krieg auch in Polen Judenmorde und Pogrome gab und 1968 eine politische Kampagne gegen Juden von den kommunistischen Behörden organisiert wurde. Für einige der heutigen polnischen Juden kehrt dieses Trauma heute zurück.

Aufgrund der polnischen Geschichte ist es schwierig, rationale Kritik an der rechtsextremen israelischen Staatspropaganda zu üben. Und tatsächlich: Kritik ist oft mit Antisemitismus verwoben. Das soll nicht heißen, dass es in Polen keine vernünftige Kritik gibt. Sie findet jedoch hauptsächlich in akademischen Fachkreisen statt und ist in der politischen Debatte nicht so stark sichtbar. Das Differenzieren fällt den Polen mit Blick auf Israel schwer.

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QOSHE - Gaza: Pole stirbt bei Angriff, Eklat mit Israels Botschafter in Warschau - Witold Mrozek
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Gaza: Pole stirbt bei Angriff, Eklat mit Israels Botschafter in Warschau

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04.04.2024

„Es waren keine Polen unter den Opfern.“ Dieser Satz, der in den polnischen Medien immer wieder auftaucht, wenn von Erdbeben, Terroranschlägen oder bewaffneten Konflikten die Rede ist, ist im polnischen Internet zu einem komischen Meme geworden, das zeigt, dass sich die Medien in Polen nicht sehr für die Welt, deren Leid und deren Opfer interessieren, sondern vor allem für sich selbst. Diesmal ist es jedoch anders. Bei dem Angriff auf einen humanitären Konvoi im Gazastreifen wurde auch ein Pole getötet. Deshalb ist zu erwarten, dass der Krieg in Gaza, an den sich die polnischen Medien gewöhnt haben, auch in Polen wieder Interesse wecken wird.

Die Tötung eines polnischen Freiwilligen im Gazastreifen zwang auch Politiker in Polen dazu, über den israelischen Krieg zu sprechen. Und sie sprachen darüber meist eher widerwillig. Nun hat der stellvertretende Sprecher des polnischen Parlaments, Krzysztof Bosak, von der rechtsextremen Partei Konfederacja, Israel eines Kriegsverbrechens beschuldigt – eines gezielten Angriffs auf den Konvoi. Die linke Abgeordnete Anna Maria Zukowska forderte wiederum ein Kriegsgericht für die Verantwortlichen.

Entsetzen über Tod von Gaza-Helfern bei israelischem Angriff

02.04.2024

Der israelische Botschafter in Warschau, Yacov Livne, kritisierte die Reaktion von Bosak und Zukowska. „Die extreme Rechte und die Linke in Polen beschuldigen Israel des vorsätzlichen Mordes bei dem gestrigen Angriff, bei dem Mitglieder einer humanitären Organisation, darunter ein polnischer Staatsbürger, ums Leben kamen.“ Der Botschafter fügte hinzu: „Antisemiten werden immer Antisemiten bleiben und Israel wird ein demokratischer jüdischer Staat bleiben, der für sein Existenzrecht kämpft. Auch zum Nutzen der gesamten westlichen Welt.“

Skrajna prawica i lewica w Polsce oskarżają Izrael o umyślne morderstwo we wczorajszym ataku, w skutek którego śmierć ponieśli członkowie organizacji humanitarnej, w tym obywatel Polski. Wicemarszałek Sejmu i lider Konfederacji Krzysztof Bosak twierdzi, że Izrael popełnia…

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02.04.2024

Polens Außenminister Radoslaw Sikorski antwortete........

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