Der Verdacht liegt nahe: Wo „Kinder“ draufsteht, muss Erziehung drin sein. Vielleicht mag diese verstaubte Gleichung erklären, warum es das Kinder- und Jugendtheater seit jeher schwer hat, in die breite Öffentlichkeit vorzudringen. Zwischen zahllosen Uraufführungen auf den Abendspielplänen geht die auch medial kaum beachtete Sparte unter – ein grober Fehler, der einem bewusst wird, wenn man sich näher mit zeitgenössischen Premieren für das U16-Publikum befasst. Denn längst sind die gesellschaftsrelevanten Diskurse der Älteren auf dem Parkett der Jüngeren angekommen. Und zwar in teils bravourösen Zugängen.

Zum Beispiel zu Klassismus. Wohl nirgendwo sonst spielen soziale Unterschiede eine größere Rolle als in der Schule, dieser Wettbewerbsarena für Modelabels und Smartphones. Spielerisch aufgegriffen hat das Thema das Theater und Orchester Heidelberg, in dem von Roland Schimmelpfennig verfassten und an Hans Christian Andersen angelehnten Drama Das Märchen von der kleinen Meerjungfrau, das bei den Mülheimer Theatertagen 2023 mit dem „KinderStückePreis“ prämiert wurde. Im Zentrum stehen drei Jugendliche in einem abgelegenen Dorf. Außer einem Strandcafé und einer Fabrik hat der Ort kaum noch Nennenswertes vorzuweisen. Nicht zuletzt aus der ökonomischen Mittellosigkeit heraus hilft allein die Fantasie. Mit ihr träumt sich das Trio in ein Unterwasserreich hinein, in dem alles möglich ist. Regisseur Marcel Kohler lässt seine Schauspieler:innen daher auch reichlich Bühnenbau betreiben. Zahlreiche Blecheimer dienen dazu, Wände und Parcours zu errichten. Auch ein Fahrrad kommt als bewährtes Reisevehikel hinzu. Damit die Zuschauer:innen in die Traumwelt versetzt werden, schafft überdies ein eigens für das Stück geschriebenes Lied von Lina Maly eine stimmungsvolle Klangkulisse. „Welle um Welle“ gleiten wir tiefer „in die Nacht hinab“, von „Mond und den Sternen bewacht“.

Auch Armela Madreiters südpol.windstill, ebenfalls in Heidelberg zu sehen, greift das Abgehängtsein Jugendlicher auf. Da die Mutter der Protagonistin an psychischen Problemen leidet und die finanzielle Situation miserabel ist, hat die Heldin einen imaginären Freund für sich erfunden: den einstigen Antarktis-Expediteur Robert Falcon Scott (1868 – 1912). An seiner Seite stellt sich die zehnjährige Ida das Leben als Polarforscherin vor. Statt einer weiten Schneelandschaft findet sie im Kühlschrank auf der Bühne jedoch nur olle Konserven. Aber was soll’s! Solange das Vorstellungsvermögen grenzenlos ist, lässt sich die Armutsspeise zu einem praktischen Festmahl in der ansonsten unwirtlichen Antarktis umdeuten.

Derlei Realisierungen zeigen, dass das Schauspiel jenseits der Klage über die Verhältnisse, die man allzu oft in dystopischen Aufführungen auf den Abendspielplänen antrifft, eine zweite Funktion erfüllen kann: die Stärkung von Widerstandskraft. Dazu muss die Regie keineswegs den pädagogischen Zeigefinger erheben. Sie veranschaulicht schlichtweg, präsentiert dem heranwachsenden Publikum Vorbilder und kleine Held:innen des Alltags. Man lernt von ihnen, weil sie, in ihrer Beharrlichkeit und ihrem Willen, nicht zu resignieren, Mut und eine geradezu rettende Fabulierkunst an den Tag legen.

Letztlich fügen sich jene Dramen über Ungleichheit und Ungerechtigkeit in einen größeren thematischen Rahmen: die Frage des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Für den Autor Henner Kallmeyer bildet die Freundschaft die wesentliche Keimzelle für die Utopie einer friedlichen Gesellschaft. Sein Text TROJA – Blinde Passagiere im Trojanischen Pferd! wurde von Frank Hörner am Theater Kohlenpott in Herne uraufgeführt. Aufgewachsen in den ideologischen Strukturen des sich mittlerweile über zehn Jahre erstreckenden Trojanischen Krieges, haben Briseis und Spourgitis, die Kinder sich bekämpfender Fronten, die anerzogenen, teils surreal-dämonischen Feindbilder verinnerlicht – bis sie sich eines Nachts in der titelgebenden Attrappe begegnen. Aus Gegnern werden allmählich einander Verstehende, vor allem mithilfe der Kraft des Spiels. Ein passender Gedanke, weil diese Form des Austauschs so frei und unbelastet anmutet. Zudem hält die Regie reichlich Sarkasmus auch für erwachsene Zuschauer:innen bereit. Eine Unterhaltung über Waffen inszeniert Hörner als leichte Tanzrevue, ganz so, als wären die Gewaltinstrumente Teil eines eingängigen Werbeblocks. Verblenden lassen sich die beiden Held:innen davon nicht, genauso wenig übrigens von den in Gestalt von Rappern auftretenden griechischen Göttern.

Gerade jene postmodernen, mithin selbstironischen Momente der Bühnenkunst, verbunden mit der tiefgreifenden Kriegsreflexion, weisen auf eine Tendenz im Kinder- und Jugendtheater der Gegenwart hin. Demnach werden traditionell gewachsene Grenzziehungen zwischen den Sparten, wie sie sich vor allem im 19. Jahrhundert etablierten, zunehmend infrage gestellt. Viele dieser Aufführungen können mit Lust und Gewinn auch von Erwachsenen gesehen werden. Damit tragen die Kultureinrichtungen schlussendlich auch einer Grundidee Rechnung, die sich im Rahmen der frühen Arbeiterbewegung manifestierte: Theater sollte allen, insbesondere Kindern, offenstehen.

Zugleich löst sich die zeitgenössische Jugendsparte von vielen Stereotypen der Vergangenheit. Von den frühen Märchen und Heldennarrativen sind zwar noch teils starke Figuren übrig geblieben. Das Setting, in dem sie sich bewegen, erscheint trotz bisweilen magischer und fantastischer Züge hingegen oft realistischer und vor allem politischer als in der Frühphase des Kindertheaters.

Dazu zählt auch eine intensive Beschäftigung mit dem letzten Tabu, dem Tod. Gerade in einer Epoche des Massensterbens – von den Folgen des Corona-Virus bis hin zu den diversen Kriegsgeschehen – richten die Theatermacher:innen den Blick auf diesen schon für Erwachsene schwierigen Komplex. Signifikant ragt das derzeit am Berliner GRIPS Theater zu sehende Stück Irgendwo da oben von Kaya Tina Büttner heraus. Darin leidet Yuna unter dem frühen Tod ihrer Mutter. Sie zieht sich zurück, wendet sich von Freunden und ihrem Klassenverbund ab. Wie in südpol.windstill sucht sie Trost bei einem Fantasiefreund. Erst als ihr Schulkamerad Max in ihr Leben tritt und nicht mehr von ihrer Seite weicht, öffnet sie sich wieder für die Wirklichkeit. Da auch er familiäre Probleme mitbringt, vermögen sich beide gegenseitig ein wenig Halt zu geben. Es mag sein, dass die Inszenierung von Petra Schönwald wenig an Bildern hergibt und lediglich mit der Darstellung des unsichtbaren Begleiters durch eine Cello-Musikerin (Ulrike Brand) einen überzeugenden Einfall vorweist. Allerdings täuscht nichts über die Sensibilität des Textes hinweg. Er führt Abschied und Verlust, Trauma und Leere als Konstanten des Daseins vor und hält emotionale Zumutungen nicht zurück, sondern zielt auf die Konfrontation mit diesen Erfahrungen.

Bei allen Aufführungen und Vorlagen fällt übrigens deutlich auf, dass die Theatermacher:innen ihrer Kunst sichtlich vertrauen. Sie scheuen weder vor längeren noch formal anspruchsvollen Arbeiten zurück. Ihre Spieler:innen bewegen sich auf Augenhöhe mit den jungen Zuschauer:innen, nehmen sie und ihre Sorgen ernst. Zudem vermittelt das Theater unbewusst eine wichtige Praxis für die Zukunft. „Digital Natives“, die mit Lärm, Streit und Hetze in den sozialen Netzwerken vertraut sein dürften, lernen vielleicht im Theater, wie man einander zuhört. Statt der Untugend des rasch geposteten Spotts vermittelt sich ihnen die Möglichkeit des Einfühlens. Das Leid durch Krieg, soziale Ausgrenzung und, ja, eben auch den Tod, es wird nahbar.

Das Märchen von der kleinen Meerjungfrau Text: Roland Schimmelpfennig, Regie: Marcel Kohler Theater und Orchester Heidelberg

südpol.windstill Text: Armela Madreiter, Regie: Yvonne Kespohl Theater und Orchester Heidelberg

TROJA – Blinde Passagiere im Trojanischen Pferd! Text: Henner Kallmeyer, Regie: Frank Hörner Theater Kohlenpott Herne

Irgendwo da oben Text: Kaya Tina Büttner, Regie: Petra Schönwald GRIPS Theater Berlin

QOSHE - Bühne | Theater für junge Menschen: Kein Kinderspiel - Björn Hayer
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Bühne | Theater für junge Menschen: Kein Kinderspiel

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04.02.2024

Der Verdacht liegt nahe: Wo „Kinder“ draufsteht, muss Erziehung drin sein. Vielleicht mag diese verstaubte Gleichung erklären, warum es das Kinder- und Jugendtheater seit jeher schwer hat, in die breite Öffentlichkeit vorzudringen. Zwischen zahllosen Uraufführungen auf den Abendspielplänen geht die auch medial kaum beachtete Sparte unter – ein grober Fehler, der einem bewusst wird, wenn man sich näher mit zeitgenössischen Premieren für das U16-Publikum befasst. Denn längst sind die gesellschaftsrelevanten Diskurse der Älteren auf dem Parkett der Jüngeren angekommen. Und zwar in teils bravourösen Zugängen.

Zum Beispiel zu Klassismus. Wohl nirgendwo sonst spielen soziale Unterschiede eine größere Rolle als in der Schule, dieser Wettbewerbsarena für Modelabels und Smartphones. Spielerisch aufgegriffen hat das Thema das Theater und Orchester Heidelberg, in dem von Roland Schimmelpfennig verfassten und an Hans Christian Andersen angelehnten Drama Das Märchen von der kleinen Meerjungfrau, das bei den Mülheimer Theatertagen 2023 mit dem „KinderStückePreis“ prämiert wurde. Im Zentrum stehen drei Jugendliche in einem abgelegenen Dorf. Außer einem Strandcafé und einer Fabrik hat der Ort kaum noch Nennenswertes vorzuweisen. Nicht zuletzt aus der ökonomischen Mittellosigkeit heraus hilft allein die Fantasie. Mit ihr träumt sich das Trio in ein Unterwasserreich hinein, in dem alles möglich ist. Regisseur Marcel Kohler lässt seine Schauspieler:innen daher auch reichlich Bühnenbau betreiben. Zahlreiche Blecheimer dienen dazu, Wände und Parcours zu errichten. Auch ein Fahrrad kommt als bewährtes Reisevehikel hinzu. Damit die Zuschauer:innen in die Traumwelt versetzt werden, schafft überdies ein eigens für das Stück geschriebenes Lied von Lina Maly eine stimmungsvolle Klangkulisse. „Welle um Welle“ gleiten wir tiefer „in die Nacht hinab“, von „Mond und den Sternen bewacht“.

Auch Armela Madreiters südpol.windstill, ebenfalls in Heidelberg zu sehen, greift das Abgehängtsein........

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