Vor rund einem Monat saß ich mit Jawed, dem Cousin eines guten Freundes, beisammen. Während wir Qabuli Palaw, das afghanische Nationalgericht, und Hähnchenkebab aßen, beobachtete ich wie er – 30 Jahre alt, ein zu großes Sakko tragend und sichtlich abgemagert – sein Essen verschlang. Es war Jaweds erste, warme Mahlzeit seit langem. Der Afghane war frisch in Deutschland angekommen und saß noch als „Illegaler“ in unserem Wohnzimmer. Über die kalten Wälder Weißrusslands erreichte er gemeinsam mit anderen Geflüchteten letztendlich Europa. Wer nicht fit war wie Jawed, der in Afghanistan einst Fußball spielte, verletzte sich bei der Überwindung von Zäunen und Mauern.

Mehrere Personen brachen sich Arme und Beine, während sie von ihren Schmugglern gehetzt oder von brutalen Grenzpolizisten gejagt wurden. Mittlerweile lebt Jawed in einem Geflüchtetenheim in Berlin und wartet auf sein Asylverfahren.

Deutlich einfacher fiel die Einreise von Abdul Bari Omar aus. Erst reiste er in die Niederlande, wo er an einer Veranstaltung der WHO teilnahm. Dann fuhr er mit einem weißen BMW über die Grenze nach Deutschland und trat in einer Ditib-Moschee in Chorweiler bei Köln auf. Omar hatte ein Schengenvisum, weshalb er sich weder in Wäldern verstecken noch vor Grenzkontrollen fürchten musste. Das Problem: Abdul Bari Omar ist ein hochrangiger Funktionär aus dem Gesundheitsministerium der Taliban und somit Teil jenes Regimes, vor dem Jawed geflüchtet ist.

Das Staunen und die Empörung waren am vergangenen Wochenende groß. Während afghanische Geflüchtete in Wäldern erfrieren oder im Mittelmeer ertrinken, reist ein Talib (Anm.: Singular von „Taliban“) seelenruhig durch Holland, Deutschland und – laut eigenen Aussagen! – weitere EU-Staaten. Ausgerechnet das Auswärtige Amt, das vor rund zwei Jahren versprochen hat, gefährdete Afghanen und Afghaninnen vor dem Regime der Taliban zu retten und diese zu evakuieren (bis jetzt kamen nur ganze 13 an!), will davon nichts gewusst haben. Ähnlich unwissend verhält sich auch die Ditib, in deren Moschee Omar für die Taliban und deren „Erfolge“ warb, während er vor einseitigen Medienberichten warnte. Selbst der afghanische Verein, der Omar eingeladen hatte und die Ditib-Räume nutzte, will von ihrem Gast aus dem Taliban-Emirat nichts gewusst haben.

All diese Details sind erwähnenswert, doch sie verdecken auch das Gesamtbild: Im August 2021 brach die Fata Morgana namens Islamische Republik Afghanistan in sich zusammen. Die USA und ihre NATO-Verbündeten, darunter auch Deutschland, erlebten ihren „Saigon-Moment“ und zogen aus Afghanistan ab, während am Kabuler Flughafen das Chaos ausbrach und das Ruder den Taliban übergeben wurde. Ohne Plan rein, ohne Plan raus. Spätestens seitdem war klar, dass eine Normalisierung des wiedergeborenen Taliban-Emirats bald zum diplomatischen Alltag gehören würde, auch in Europa, wo mittlerweile nicht nur rechte Kräfte Stimmung machen und Abschiebungen fordern, auch nach Afghanistan. Bis heute wurde das Taliban-Regime offiziell von keinem Staat der Welt anerkannt. Hinter den Kulissen findet allerdings so einiges statt. Die Gesprächskanäle sind da und sogar Botschaften und Konsulate wurden von Taliban-Personal übernommen.

Währenddessen haben die Extremisten im Land eine de facto Gender-Apartheid errichtet. Afghaninnen dürfen weder Oberstufenschulen noch Universitäten besuchen. Hinzu kommen zahlreiche Arbeits- und Freizeitverbote. Viele Frauen sind wütend und deprimiert – und sie fühlen sich hilflos und alleingelassen. Nachdem sich die internationale Staatengemeinschaft aus Afghanistan zurückgezogen hatte, sanktionierte sie das neue Regime in Kabul. Kritiker hoben oft hervor, dass diese Sanktionen nicht die Taliban-Führung, sondern die einfache Bevölkerung treffen würden. Dies hat sich nun abermals bewahrheitet. Denn während viele Menschen im Land hungern und einem kalten Winter entgegenblicken, touren Taliban-Offizielle nicht nur durch Europa, sondern auch durch den Nahen Osten, etwa die Golfstaaten, und zahlreiche andere Länder.

Der gegenwärtige Außenminister des Landes, Amir Khan Muttaqi, befindet sich etwa gegenwärtig in klinischer Behandlung – in der Türkei. Umso naiver sind die Forderungen nach einer Distanzierung der Ditib. In Ankara hat man sich nämlich schon längst mit den neuen Machthabern am Hindukusch arrangiert und verlangt deren internationale Anerkennung. Die Taliban verstehen sich in erster Linie nämlich nicht als Fanatiker oder Extremisten, sondern als sunnitische Muslime der hanafitischen Rechtsschule, ähnlich wie die meisten Muslime der Welt, einschließlich jener in der Türkei. Die Ditib untersteht dem Diyanet, dem türkischen Präsidium für Religionsangelegenheiten. Diese Behörde hat gar kein Interesse, sich von den Taliban zu distanzieren. Tatsächlich ist eher Gegenteiliges der Fall: Man lädt die Extremisten regelmäßig ins Land und lichtet sich mit ihnen ab.

Doch Obacht: Vor allem in Deutschland wird in Anbetracht solcher Nachrichten voreilig mit erhobenem Finger moralisiert. Während die Nachricht über den Besuch Omars verbreitet wurde, fand eine andere Reise umso weniger Beachtung. Vor wenigen Tagen besuchte der deutsche Diplomat Markus Potzel die Provinz Panjsher im Norden Afghanistans. Potzel war einst Deutschlands Botschafter in Kabul und ist mittlerweile für die UN tätig. Außerdem war er in den politischen Verhandlungen mit den Taliban, die vor 2021 stattfanden, involviert. Nun begrüßte Potzel ausgerechnet in Panjsher, das seit Monaten von Taliban-Kämpfern besetzt wird und wo höchstwahrscheinlich zahlreiche Kriegsverbrechen stattgefunden haben, die Sicherheitslage unter dem neuen Regime. Für all jene, die tagtäglich versuchen, aus Afghanistan zu flüchten, ist auch das ein weiterer Schlag ins Gesicht.

QOSHE - Meinung | Diplomatie: Wie ein Talib durch Europa tourt - Emran Feroz
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Meinung | Diplomatie: Wie ein Talib durch Europa tourt

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20.11.2023

Vor rund einem Monat saß ich mit Jawed, dem Cousin eines guten Freundes, beisammen. Während wir Qabuli Palaw, das afghanische Nationalgericht, und Hähnchenkebab aßen, beobachtete ich wie er – 30 Jahre alt, ein zu großes Sakko tragend und sichtlich abgemagert – sein Essen verschlang. Es war Jaweds erste, warme Mahlzeit seit langem. Der Afghane war frisch in Deutschland angekommen und saß noch als „Illegaler“ in unserem Wohnzimmer. Über die kalten Wälder Weißrusslands erreichte er gemeinsam mit anderen Geflüchteten letztendlich Europa. Wer nicht fit war wie Jawed, der in Afghanistan einst Fußball spielte, verletzte sich bei der Überwindung von Zäunen und Mauern.

Mehrere Personen brachen sich Arme und Beine, während sie von ihren Schmugglern gehetzt oder von brutalen Grenzpolizisten gejagt wurden. Mittlerweile lebt Jawed in einem Geflüchtetenheim in Berlin und wartet auf sein Asylverfahren.

Deutlich einfacher fiel die Einreise von Abdul Bari Omar aus. Erst reiste er in die Niederlande, wo er an einer Veranstaltung der WHO teilnahm. Dann fuhr er mit einem weißen BMW über die Grenze nach Deutschland und trat in einer Ditib-Moschee in Chorweiler bei Köln auf. Omar hatte ein Schengenvisum, weshalb er sich weder in Wäldern verstecken noch vor Grenzkontrollen fürchten musste. Das Problem: Abdul Bari Omar ist ein hochrangiger Funktionär aus dem Gesundheitsministerium der Taliban und somit Teil jenes Regimes, vor dem Jawed geflüchtet........

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