Vor Tagen trafen sich, wie jedes Jahr, Vertreter der politischen und wirtschaftlichen Eliten im beschaulichen Schweizer Davos, um über Weltprobleme zu räsonieren. Das Motto lautete: „Wiederaufbau des Vertrauens“. Die wenigen Optimisten, die sich von diesem Treffen einen Durchbruch für einen Waffenstillstand im Ukraine-Krieg erhofft hatten, sahen sich enttäuscht. Wie hätte es Fortschritte geben können, wenn Gesandte Russlands erst gar nicht eingeladen waren?

Präsident Wolodymyr Selenskyj warb derweil für seinen Friedensvorschlag, dessen Maximalziele – Rückzug aller russischen Truppen von ukrainischem Gebiet, Reparationszahlungen, Verfolgung von Kriegsverbrechen – für Moskau völlig unakzeptabel sind. Von US-Außenminister Antony Blinken, dem Briten David Cameron oder EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hörte man auch keine neuen Ideen, wie der Konflikt beendet werden könnte. Es war nichts zu sehen von einer Friedenstaube über Davos.

Auf den ersten Blick ist das aus vielerlei Gründen verständlich. Da ist etwa das Argument, Russlands Angriffskrieg dürfe sich nicht lohnen. Die USA haben überdies ein Interesse daran, diesen Gegner weiter zu schwächen. Dessen Kriegswirtschaft läuft zwar mittlerweile auf Hochtouren, ist aber für die langfristige ökonomische Wettbewerbsfähigkeit kaum vorteilhaft. Russland setzt seinerseits auf eine Abnutzung des militärischen und infrastrukturellen Potenzials der Ukraine und darauf, dass die Bereitschaft des Westens schwindet, Kiew beizustehen. Zudem sind der russische und ukrainische Nationalismus nicht zu unterschätzende Hindernisse einer Verständigung. Eine damit korrespondierende Dämonisierung des Gegners duldet kein Zurückweichen. Angesichts der vielen Toten beider Seiten wird auch das klassische Argument bemüht, die erbrachten Opfer dürften nicht umsonst gewesen sein. Solange beide Seiten glauben, die Zeit arbeite für sie, man müsse nur lange genug durchhalten, fällt Kompromissbereitschaft schwer.

Natürlich ist suggerierte Übermacht beeindruckend, wenn der britische Außenminister in Davos das kombinierte Bruttoinlandsprodukt des Westens russischer Wirtschaftskraft gegenüberstellt. Andererseits ist klar, dass Moskau die Ukraine dauerhaft zu einem „failed state“ bomben kann. Die wechselseitige ideologische Überhöhung des Kampfes – „Verteidigung der Freiheit des Westens“ gegen „Rettung der russischen Welt“ – verhärtet die Fronten zusätzlich. Was auf beiden Seiten fehlt, benannte der chinesische Premier Li Qiang in Davos: mehr Kommunikation, mehr Realismus, Aufbau von Vertrauen.

Es gibt viele Gründe, die eigentlich für eine Waffenruhe sprechen: Die weitreichenden Träume beider Seiten sind mittlerweile geplatzt. Die ukrainische Gegenoffensive ist gescheitert, Kiew in der Defensive.

Eine strategische Niederlage Russlands ist ebenso wenig in Sicht wie ein Regimewechsel. Moskau ist international nicht zu isolieren und zeigt sich ökonomisch resilienter als gedacht. Umgekehrt kann es weder die gesamte Ukraine beherrschen noch einen Regimewechsel in Kiew durchsetzen. Ein umfassender Sieg einer Seite ist also unrealistisch. Ihn dennoch anzustreben, ist mit einem nicht hinnehmbaren Eskalationsrisiko verbunden. Auszuschließen ist es nur, werden die Kriegshandlungen eingestellt. Kriegsmüdigkeit macht sich allenthalben bemerkbar, und die Last des Krieges drückt auf alle Beteiligten. Womöglich wollen auch Teile der Eliten beider Kriegsparteien aus der geopolitischen Sackgasse, in die sie geraten sind, und das tun, was ethisch angebracht erscheint: die territorialen und politischen Konflikte diplomatisch regeln.

Wäre es nicht sinnvoll, sich mit dem Erreichten zufriedenzugeben? Wenn ein Sieg nicht möglich und ein solcher Gewaltkonflikt auf Dauer zu teuer ist, bleibt nur der Kompromiss. Moskau könnte darauf verweisen, dass es vermeintlich russische Gebiete heimkehren ließ, und Kiew erklären, sich als Staat behauptet zu haben. Der russische Großangriff wurde abgewehrt, sodass man weiter vier Fünftel des eigenen Territoriums kontrolliere. Natürlich bedürfte es internationaler Sicherheitsgarantien und des Verzichts auf Maximalziele, wozu wohl eine NATO-Mitgliedschaft gehört. Schließlich müssten die Sicherheitsinteressen beider Seiten respektiert werden, was eine ukrainische Mitgliedschaft in der EU jedoch nicht ausschließt. Dies langfristig vor Augen zu haben, steht bereits auf der Habenseite Kiews.

Es bleibt als Gebot, die Frage nach einer künftigen europäischen Friedensordnung aufzuwerfen. Darin müssten nicht nur ein ukrainisch-russischer Friedensvertrag, sondern auch Abrüstungs- und Rüstungskontrollvereinbarungen eingebettet werden. Auch wenn darüber in Davos nicht gesprochen wurde, sind zumindest zwei Hoffnungsschimmer zu vermerken. Die Schweiz und die Ukraine haben vereinbart, einen Friedensgipfel zur Lösung des Ukraine-Konflikts zu bestreiten. Zeitpunkt, Agenda und Teilnehmer stehen zwar noch nicht fest, doch dürfte ein solches Projekt ohne Russland wenig Sinn haben. Zudem gibt es zuletzt immer wieder Meldungen über Back-Channel-Diplomatie und russische Signale, den Konflikt einzufrieren. Ob nur geraunt oder auch gehandelt wird, ist schwer zu sagen. Ergäben sich daraus Chancen, sollte man sie nutzen.

QOSHE - Kompromiss | Ukraine: Gegenseitige Dämonisierung verhindert eine Waffenruhe - Hans-Georg Ehrhart
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Kompromiss | Ukraine: Gegenseitige Dämonisierung verhindert eine Waffenruhe

9 0
25.01.2024

Vor Tagen trafen sich, wie jedes Jahr, Vertreter der politischen und wirtschaftlichen Eliten im beschaulichen Schweizer Davos, um über Weltprobleme zu räsonieren. Das Motto lautete: „Wiederaufbau des Vertrauens“. Die wenigen Optimisten, die sich von diesem Treffen einen Durchbruch für einen Waffenstillstand im Ukraine-Krieg erhofft hatten, sahen sich enttäuscht. Wie hätte es Fortschritte geben können, wenn Gesandte Russlands erst gar nicht eingeladen waren?

Präsident Wolodymyr Selenskyj warb derweil für seinen Friedensvorschlag, dessen Maximalziele – Rückzug aller russischen Truppen von ukrainischem Gebiet, Reparationszahlungen, Verfolgung von Kriegsverbrechen – für Moskau völlig unakzeptabel sind. Von US-Außenminister Antony Blinken, dem Briten David Cameron oder EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hörte man auch keine neuen Ideen, wie der Konflikt beendet werden könnte. Es war nichts zu sehen von einer Friedenstaube über Davos.

Auf den ersten Blick ist das aus vielerlei Gründen verständlich. Da ist etwa das Argument, Russlands Angriffskrieg dürfe sich nicht lohnen. Die USA haben überdies ein Interesse daran, diesen Gegner weiter zu schwächen. Dessen Kriegswirtschaft läuft zwar mittlerweile auf Hochtouren, ist aber für die langfristige ökonomische........

© der Freitag


Get it on Google Play