Selbst wenn man sich fest vornehmen würde, der kenntnisreichste Musikjournalist überhaupt zu werden, Allwissenheit ist kaum möglich: Etwa 100.000 neue Songs werden derzeit pro Tag (!) auf Musikstreaming-Plattformen hochgeladen. Zwischen dem Geschäftsjahr 2021 und 2022 meldete allein der Anbieter Spotify einen Zuwachs seiner Musikbibliothek um 18 Millionen Tracks.

18 Millionen! Bei einer durchschnittlichen Länge von drei Minuten pro Song sind das 54 Millionen Minuten, etwa 40.000 Tage – weit mehr als eine Lebenszeit. Der Zenit universeller Musikkenntnis ist längst überschritten.

Das wissen die Künstler*innen, die Musikverlage und die Labelchefs. Ihre Technik, um gegen die Neuigkeitsflut anzuschwimmen, heißt: neu, neu, neu! Ein Beispiel: Von Peter Fox’ neuem Album Love Songs erschien die erste Single bereits ein halbes Jahr vor Release. Knapp die Hälfte aller Songs waren schon veröffentlicht, als das Album im Mai 2023 herauskam. Musiker*innen ist diese neue Veröffentlichungsstrategie leidlich bekannt: Etablierte wie neue berichten davon, wie die Labels sie dazu anhalten, konstant Singles zu veröffentlichen, um ihre Relevanz laufend zu erneuern. Das Album ist für viele nur noch eine nachgeschobene Collage von allem, was eh schon draußen ist.

Vor diesem Hintergrund ist es einigermaßen erstaunlich, dass überhaupt noch ein alter Song jemals wieder Relevanz erlangen kann. Aber genau das passiert gerade immer und immer wieder. Das bekannteste Beispiel dürfte die Netflix-Serie Stranger Things sein. Die in einem fiktiven 80er-Jahre-Setting angesiedelte Show brachte es fertig, sowohl Kate Bushs Running Up That Hill (1985) als auch Metallicas Master of Puppets (1986) einem großen und mutmaßlich eher jugendlichen Publikum neu zu präsentieren, und sorgte prompt für einen (erneuten) Charteinstieg der beiden Songs, fast 40 Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung. Ganz neu ist das Phänomen nicht – Marvin Gayes I Heard It Through the Grapevine (1967) chartete nach einem populären Werbespot des Jeans-Herstellers Levi’s mit dem Song in den 1980er-Jahren erneut – aber die Frequenz nimmt zu. Gerade erst reaktivierte der Film Saltburn einen Song der Sängerin Sophie Ellis-Bextor aus dem Jahr 2001; Murder on the Dancefloor stand daraufhin wieder auf Platz 2 der britischen Single-Charts.

Jüngst gelang noch so ein nostalgischer Geniestreich. Tracy Chapman, die heute 59-jährige, mehrfach preisgekrönte US-Songwriterin sang bei den diesjährigen Grammys ein Duett mit dem 33-jährigen US-Country-Sänger Luke Combs. Sie performten Fast Car, Chapmans Hit aus dem Jahr 1988, in eindrücklicher Harmonie: Chapman intonierte mit erhabener Leichtigkeit ihre 36 Jahre alte Geschichte von einem scheiternden amerikanischen Traum, Sänger Combs formt neben ihr jede Silbe mit den Lippen mit, sichtlich bedacht darauf, neben einem seiner erklärten Vorbilder die bestmögliche Figur zu machen. Combs hatte zuvor Erfolg mit einer Cover-Version von Fast Car. Obwohl der Text eindeutig aus Perspektive einer Frau geschrieben ist, weigerte sich der Sänger, das Original großartig zu verändern. Chapman ist für ihn eine musikalische Heldin, ihr Werk unantastbar.

Zum Zeitpunkt, als diese Kolumne fertig werden muss, ist es noch nicht offiziell, aber absehbar: Auch Fast Car wird wieder in die Charts einsteigen. Keine TV-Show, kein Werbespot haben diesmal diesen Song wieder auf die Tagesordnung gesetzt – es war die Künstlerin selbst und ihr weitgehend unverändertes Lied.

Das zeigt: Ein einziger zeitloser Song reicht aus, um die nach ständigen Neuheiten gierende Musikmarkt-Dynamik zu durchbrechen. Ein „alter“ Hit ist neu für einen Unwissenden, und wenn er gut ist, schlägt er Hunderttausend am Tag.

QOSHE - Musiktagebuch | 18 Millionen neue Songs und ein Hit von Tracy Chapman - Konstantin Nowotny
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Musiktagebuch | 18 Millionen neue Songs und ein Hit von Tracy Chapman

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14.02.2024

Selbst wenn man sich fest vornehmen würde, der kenntnisreichste Musikjournalist überhaupt zu werden, Allwissenheit ist kaum möglich: Etwa 100.000 neue Songs werden derzeit pro Tag (!) auf Musikstreaming-Plattformen hochgeladen. Zwischen dem Geschäftsjahr 2021 und 2022 meldete allein der Anbieter Spotify einen Zuwachs seiner Musikbibliothek um 18 Millionen Tracks.

18 Millionen! Bei einer durchschnittlichen Länge von drei Minuten pro Song sind das 54 Millionen Minuten, etwa 40.000 Tage – weit mehr als eine Lebenszeit. Der Zenit universeller Musikkenntnis ist längst überschritten.

Das wissen die Künstler*innen, die Musikverlage und die Labelchefs. Ihre Technik, um gegen die Neuigkeitsflut anzuschwimmen, heißt: neu, neu, neu! Ein Beispiel: Von Peter Fox’ neuem Album Love Songs erschien die erste Single bereits ein halbes Jahr vor Release. Knapp die Hälfte aller Songs waren schon veröffentlicht, als das Album im Mai 2023........

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