Es kommt vor, dass im Theater politische Reden geschwungen werden. Für gewöhnlich rennen die Redenden dabei die offenen Türen ihres linksliberalen Publikums ein. Nicht so am vergangenen Wochenende in der Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin. Da stand ein adrett gekleideter Herr mit Schnurrbart am Bühnenrand – und hetzte. Gegen Roma, gegen den Feminismus, gegen Minderheiten allgemein. Und beschwor stattdessen die wahre Nation, ein Land der Kultur und Tradition, das zu retten er sich vorgenommen habe.

Und dann geschah etwas Außerordentliches. Teile des Publikums schienen zu vergessen, wo sie waren: im Theater; und dass da vorn ein Schauspieler stand, der etwas spielte, und kein wirklicher Politiker der rechtspopulistischen Partei Chega aus Portugal. Einige standen auf und gingen. Andere husteten laut, lachten oder riefen „Cala-te“, also „Halt den Mund“. Und ja, ein paar sangen sogar Grândola, Vila Morena, jenes Lied, das vor 50 Jahren, am 25. April 1974, die Nelkenrevolution einleitete.

Die Szene war das bemerkenswerte Finale einer bemerkenswerten Inszenierung: Catarina e a beleza de matar fascistas („Catarina und die Schönheit, Faschisten zu töten“) war zweifelsohne das bisherige Highlight des diesjährigen Festivals Internationale Neue Dramatik (FIND) an der Schaubühne. Die Idee: ein Familientreffen. Man isst gemeinsam, trinkt, lacht, freut sich. Und dann erschießt man einen Faschisten. Jedes Jahr. Seit über 70 Jahren. Doch gerade als die Faschisten wieder die Macht übernehmen – das Stück spielt in einer unangenehm nahen Zukunft –, bricht der Zweifel in dieses antifaschistische Ritual ein. Ist das der richtige Weg, den Faschismus aufzuhalten? Was bringt es denn, rituell einen von ihnen zu ermorden? Und ist es nicht grundfalsch, einen Menschen zu töten?

Autor und Regisseur Tiago Rodrigues ist mit seinem Ensemble eine verstörende, komische, zum Nachdenken anregende Groteske gelungen, die unerträglich aktuell ist. Die Frage, mit welchen Mitteln die Faschisierung Europas noch aufzuhalten ist, bringt Rodrigues in mitreißenden Dialogen so auf die Bühne, dass allerlei Ambivalenzen deutlich werden, ohne dass hier Diskurs ausgestellt würde. Als er 2018 begann, an dem Stück zu arbeiten, war Portugal noch eine Anomalie: ein westeuropäisches Land ohne starke Rechtspopulisten. Als Chega 2019 mit einem Abgeordneten ins Parlament einzog, galt das als politisches Erdbeben. Und Rodrigues wurde klar: Dieses Stück kann sich nicht nur mit dem ritualisierten Antifaschismus des demokratischen Portugals befassen; es muss auch um die Zukunft gehen. Und die hat das Stück eingeholt: Bei den Wahlen vom 10. März errang Chega jüngst 50 Sitze.

Das Stück weist weit über den portugiesischen Kontext hinaus und ist zugleich der Auftakt des Schwerpunkts auf portugiesischsprachige Dramatik bei dieser Ausgabe des FIND. In Pêndulo, einem Projekt des auch als Filmregisseur bekannten Theatermachers Marco Martins, erzählen Frauen, die als Pflegerinnen, Reinigungskräfte oder im Supermarkt arbeiten, von ihren Leben. Alle kommen sie aus ehemaligen Kolonien Portugals, Brasilien oder São Tomé e Príncipe zum Beispiel. Ihre Geschichten werden jedoch nicht ausgestellt, sondern als Momentaufnahmen destilliert: Es geht um die Nähe zu den hilflosen Alten, um die sie sich kümmern, um aufgegebene Träume, auch um Konflikte und Solidarität untereinander. Der Abend wirft einen warmen, aber nicht mitleidigen Blick auf seine Protagonistinnen und entwickelt eher die Atmosphäre eines Essayfilms.

Das dritte Stück in portugiesischer Sprache, Manifesto Transpofágico, wird noch zu sehen sein, ab dem 27. April. Der Titel erinnert an Oswald de Andrades Manifesto Antropófago von 1928, einen Schlüsseltext der brasilianischen Moderne, der das Prinzip des kulturellen Kannibalismus zur Stärke erhebt. In der Produktion der Brasilianerin Renata Carvalho soll es indes um trans Personen und deren Körper gehen.

Gemeinsam bilden die drei Stücke eine Art postkoloniale Sichtachse: Portugal, 50 Jahre nach der endgültigen Dekolonialisierung, bleibt eng verwoben mit jenen Erdteilen, die es einst unterworfen hatte; ein sehr gelungener kuratorischer Handgriff.

Als eine der wenigen Gelegenheiten in Berlin, einen Blick über den deutschsprachigen Bühnenrand zu werfen, ermöglicht es das FIND, auch kleinere Produktionen zu sehen, die kaum international touren. Dazu gehört auch Il Capitale – un libro che ancora non abbiamo letto („Das Kapital – ein Buch, das wir noch nicht gelesen haben“). Auch hier stehen keine professionellen Darsteller:innen auf der Bühne, sondern Arbeiter:innen der GKN-Fabrik in Florenz. 2021 wurden alle entlassen, die Fabrik sollte schließen.

Foto: Luca del Pia

Doch die Arbeiter:innen besetzten die Fabrik und kämpfen seither für deren und ihre Zukunft. Sie erfuhren enorme Solidarität aus der Bevölkerung, auch die Theatermacher Enrico Baraldi und Nicola Borghesi gingen in die Fabrik. Sie arbeiteten gerade an einem Stück über Karl Marx’ Klassiker, womit die Arbeiter:innen freilich wenig anfangen konnten. Weil sie nur zum Gucken kamen, erhielten sie den Spitznamen „Geheimdienst“. Doch langsam fasste man gegenseitiges Vertrauen und begann zusammenzuarbeiten.

Auf der Bühne war nun ein schönes, starkes Stück über Solidarität zu sehen. Während Borghesi sich in linksbürgerlicher Selbstkritik übt, erzählen die Arbeiter:innen von ihrem Weg in die Fabrik. Tiziana soll zunächst Lakaiin der Geschäftsführung sein und wird, weil sie nachlässt, zur Putzkraft degradiert; Mario kommt aus Neapel und wollte gerade eine Familie gründen, als die Kündigung kam. Vor allem geht es aber um die Gründe, zu kämpfen. Und so ist es mehr als ein gelungener Lacher, wenn Francesco Iorio sagt: „Ich dachte, ich müsste zum Psychologen, dabei musste ich nur eine Fabrik besetzen.“

Festival Internationale Neue Dramatik Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin, noch bis 28. April 2024

QOSHE - Bühne | Festival Internationale Neue Dramatik an der Schaubühne: Die wollen nicht nur spielen - Leander F. Badura
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Bühne | Festival Internationale Neue Dramatik an der Schaubühne: Die wollen nicht nur spielen

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22.04.2024

Es kommt vor, dass im Theater politische Reden geschwungen werden. Für gewöhnlich rennen die Redenden dabei die offenen Türen ihres linksliberalen Publikums ein. Nicht so am vergangenen Wochenende in der Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin. Da stand ein adrett gekleideter Herr mit Schnurrbart am Bühnenrand – und hetzte. Gegen Roma, gegen den Feminismus, gegen Minderheiten allgemein. Und beschwor stattdessen die wahre Nation, ein Land der Kultur und Tradition, das zu retten er sich vorgenommen habe.

Und dann geschah etwas Außerordentliches. Teile des Publikums schienen zu vergessen, wo sie waren: im Theater; und dass da vorn ein Schauspieler stand, der etwas spielte, und kein wirklicher Politiker der rechtspopulistischen Partei Chega aus Portugal. Einige standen auf und gingen. Andere husteten laut, lachten oder riefen „Cala-te“, also „Halt den Mund“. Und ja, ein paar sangen sogar Grândola, Vila Morena, jenes Lied, das vor 50 Jahren, am 25. April 1974, die Nelkenrevolution einleitete.

Die Szene war das bemerkenswerte Finale einer bemerkenswerten Inszenierung: Catarina e a beleza de matar fascistas („Catarina und die Schönheit, Faschisten zu töten“) war zweifelsohne das bisherige Highlight des diesjährigen Festivals Internationale Neue Dramatik (FIND) an der Schaubühne. Die Idee: ein Familientreffen. Man isst gemeinsam, trinkt, lacht, freut sich. Und dann erschießt man einen Faschisten. Jedes Jahr. Seit über 70 Jahren. Doch gerade als die Faschisten........

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