Als der Feigenbaum mit einem Mal alle seine Früchte verliert, weiß Estela, dass etwas Schlimmes passieren wird. Wenn einer stirbt, sterben immer noch zwei weitere, hat ihre Mutter ihr beigebracht; damals, auf der Insel Chiloé im Süden Chiles, wo sie aufwuchs und lebte – bis sie sich in die Hauptstadt Santiago begab, um für eine wohlhabende Familie zu arbeiten. Ihre Mutter hatte sie gewarnt, das sei eine Falle: Das sei keine normale Arbeit, man könne nicht einfach gehen. Und sie hatte recht, sieben Jahre bleibt Estela, sechs Tage pro Woche kocht, wäscht, putzt und umsorgt sie, nur am Sonntag hat sie frei. Sieben Jahre, von der Geburt des Mädchens bis zu dessen Tod.

Dass das Mädchen stirbt, ist von Beginn an klar in Alia Trabucco Zeráns Roman Mein Name ist Estela. Doch wie und warum es starb, das will Estela erklären, nicht zuletzt, um den Verdacht von sich selbst zu weisen. Rund 240 Seiten dauert ihr Monolog, den sie gegen eines jener verspiegelten Fenster richtet, die in Verhörräumen angebracht sind. Sie beginnt, wie sie sagt, im „Randbereich der Geschichte“ und arbeitet sich in langsamen, enger werdenden Kreisen ins Zentrum hervor. „All das ist wichtig, denkt nicht, dass ich Zeit gewinnen will. Das Bett machen, lüften, die Kotze aus dem Teppichboden bürsten“, bittet sie ihre unsichtbaren Zuhörer um Geduld.

Diese Chronik eines angekündigten Todes erzählt also nicht nur vom tragischen Sterben eines kleinen Mädchens. Sie ist auch der Krimi der Gegenwart einer harten Klassengesellschaft. Im Fernsehen sieht Estela Bilder schwerer Ausschreitungen – ein Verweis auf die sozialen Proteste des Jahres 2019, die zur Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung führten.

Außerdem ist es heiß. So heiß und trocken, dass eben der Feigenbaum seine Früchte abwirft, nie wieder Blätter trägt und schließlich gefällt wird. Unschwer ist hier das Menetekel der Klimakatastrophe zu erkennen; Chile gehört zu den Ländern, die vermehrt von Waldbränden verheert werden. Der Regen ist nur eine Erinnerung, wie das Leben, das er einst brachte. Was bleibt, ist Dürre, die auch das Kind, einerseits Symbol der Hoffnung, andererseits Garant der Unumstößlichkeit der sozialen Verhältnisse, früh zum Tode verurteilt.

Estela spricht stets nur von „dem Mädchen“. Die Namen der Familienmitglieder sind rasch vergessen. Nur Estelas Name bleibt präsent – ein Akt des Widerstands, wie dieses ganze Buch. Denn dies ist die Geschichte aus der Sicht des Dienstmädchens, das sonst niemand fragt, wie es ihm geht, das mit seinen sechs identischen Kittelschürzen eher einem Möbelstück denn einem Menschen gleicht, das alle seine Bedürfnisse hintanstellt, das seine Herren ver- und umsorgt, ihnen beim Essen, Weinen, Fluchen und Ficken zusehen muss, sich keine Meinung, ja, kein eigenes Sein erlauben darf, das irgendwann schlicht verstummt, was niemanden sonderlich zu stören scheint – und das dennoch, auch davor hatte ihre Mutter es gewarnt, diese Menschen ins Herz schließt; insbesondere das Mädchen, das erschreckend früh begreift, dass es Estela seinen Willen aufzwingen kann, ohne Sanktionen zu fürchten. Nicht nur darin erinnert das Buch an Leïla Slimanis Bestseller Dann schlaf auch du.

In La Haine, jenem legendären Spielfilm von 1995 über die Situation in den französischen Banlieues, heißt es: „Dies ist die Geschichte einer Gesellschaft, die fällt. Während sie fällt, sagt sie, um sich zu beruhigen, immer wieder: Bis hierher lief’s noch ganz gut. Aber wichtig ist nicht der Fall, sondern die Landung.“ Alia Trabucco Zerán hat ein großartiges Buch über die Dämonen einer Klassengesellschaft geschrieben, die kurz vor dem Aufprall ist.

Mein Name ist Estela Alia Trabucco Zerán Benjamin Loy (Übers.), Hanser Berlin 2024, 240 S., 24 €

QOSHE - Krimi | „Mein Name ist Estela“ von Alia Trabucco Zerán: Chronik eines angekündigten Todes - Leander F. Badura
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Krimi | „Mein Name ist Estela“ von Alia Trabucco Zerán: Chronik eines angekündigten Todes

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12.04.2024

Als der Feigenbaum mit einem Mal alle seine Früchte verliert, weiß Estela, dass etwas Schlimmes passieren wird. Wenn einer stirbt, sterben immer noch zwei weitere, hat ihre Mutter ihr beigebracht; damals, auf der Insel Chiloé im Süden Chiles, wo sie aufwuchs und lebte – bis sie sich in die Hauptstadt Santiago begab, um für eine wohlhabende Familie zu arbeiten. Ihre Mutter hatte sie gewarnt, das sei eine Falle: Das sei keine normale Arbeit, man könne nicht einfach gehen. Und sie hatte recht, sieben Jahre bleibt Estela, sechs Tage pro Woche kocht, wäscht, putzt und umsorgt sie, nur am Sonntag hat sie frei. Sieben Jahre, von der Geburt des Mädchens bis zu dessen Tod.

Dass das Mädchen stirbt, ist von Beginn an klar in Alia Trabucco Zeráns Roman Mein Name ist Estela. Doch wie und warum es starb, das will Estela erklären, nicht zuletzt, um den Verdacht von sich selbst zu weisen. Rund 240 Seiten dauert ihr Monolog, den sie gegen eines jener........

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