Es muss in dieser Hinsicht nichts zwischen den Zeilen gelesen, sondern kann getrost beim Wort genommen werden, was gesagt wird. Bei seinem dritten Besuch in Washington seit Beginn des Ukraine-Krieges ist Wolodymyr Selenskyj in dieser Woche nicht unbedingt auf taube Ohren gestoßen – auf eine andere Wortwahl seiner Gastgeber schon. Hatte Präsident Joe Biden bisher stets beteuert, man werde die Ukraine unterstützen, „so lange wie irgendwie nötig“, bekam deren Staatschef nun zu hören: „Wir werden die Ukraine mit Waffen beliefern, solange wir können.“

Das klingt abgeschwächter und konditionierter als bisher. „Solange“ heißt wie lange? Schon Anfang des Jahres dürfte sich bemerkbar machen, dass die Mehrheit der Republikaner im Repräsentantenhaus, dazu die republikanischen Mandatsträger im Senat, 60 Milliarden Dollar blockieren, mit denen ein fortgesetzter, womöglich noch forcierter Waffentransfer der USA finanziert werden soll. Und auf der Schwelle zum Jahr der US-Präsidentenwahl werden sich die Gegner des designierten Kandidaten Biden jede Konzilianz verkneifen und ihr Junktim Ukraine-Hilfe gegen Maximalforderungen bei der Einwanderungspolitik nicht aufgeben.

Selenskyj verhandelte in den USA auf ziemlich verlorenem Posten, zumal die Sitzungsperiode des Kongresses im Jahr 2023 mit dieser Woche endet, insofern Kompromisse erst einmal auf sich warten lassen.

In einer solchen Situation eventuell auch noch hinnehmen zu müssen, dass es der EU-Gipfel in Brüssel unterlässt oder nicht zustandebringt, sein Plazet für die Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit der Ukraine und Moldau zu verkünden, hätte Selenskyj schwer demontiert, wenn nicht innenpolitisch erheblich ins Trudeln gebracht. Er harmoniert gerade nicht unbedingt mit der militärischen Führung.

Genau genommen hatte der Europäische Rat gar keine Wahl, wollte er dem ukrainischen Staatschef nicht den nächsten Tiefschlag in einer Woche versetzen. 26 Mitgliedstaaten trafen insofern keine „historische“, sondern eine taktische Entscheidung aus Angst vor den Konsequenzen eines anders ausfallenden Votums. Dazu wurden sogar die geltenden, in den EU-Verträgen verankerten Abstimmungsregularien suspendiert, um ein Veto Ungarns zu umgehen. Dass dem ungarischen Premier Viktor Orbán nahelegt wurde, nicht abzustimmen, weil zuvor klar war, wie er abstimmen würde, folgt der fragwürdigen Maxime, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Es wird suspendiert, wer nicht funktioniert.

Natürlich wird unter diesen Umständen die Frage gar nicht erst gestellt: Wer hätte sich Orbán womöglich angeschlossen, wäre die Entscheidung über Beitrittssondierungen nicht derart aufgeladen und alternativlos gewesen, dass sie angesichts der wackelnden Amerikaner zum EU-Referenzprojekt der Stunde erhoben worden ist. Es bedarf keiner analytischen Gabe, um zu erkennen, wie sehr hier Symbolismus waltet und Erweiterungspolitik dazu dient, in der Großmachtkonkurrenz mit Russland zu bestehen. Die Devise lautet, wir füllen dir die Satteltaschen, Selenskyj. Sicher, es ist viel heiße Luft dabei, nur bleibe bitte schön auf dem Kriegspfad. Wir hätten uns sonst alle miteinander unsterblich blamiert.

Wer so unter Druck steht, muss natürlich ausblenden, wie es in diesem konkreten Fall Ukraine eigentlich um die Aufnahmefähigkeit der EU bestellt ist, gemessen an geltenden Verträgen und Interessenlagen. Präsident Emmanuel Macron hat gerade wegen der zu erwartenden Agrarexporte aus Südamerika das Freihandelsabkommen EU-Mercosur scheitern lassen. Was wird eine französische Regierung erst unternehmen, wenn der ukrainische Agrar­riese auf der EU-Schwelle steht? Und was ist die Beschwörung von unbedingter Rechtsstaatlichkeit und Good Governance noch wert, wenn die Ukraine beim Korruptionsindex von Transparency International hinter Nepal, Malawi und Gambia auf Rang 116 liegt? Und das war Anfang 2023 und ist solange nicht her.

Und ist Artikel 42 des EU-Vertrages nicht bekannt, der Mitgliedsstaaten im Kriegsfall unter den kollektiven Schutz der Gemeinschaft stellt, die dem militärischen Nachdruck zu verschaffen hat? Gilt das für die Ukraine, wäre dies ein Äquivalent für die bisher verweigerte NATO-Zugehörigkeit. Wenn nicht, winkt eine EU-Mitgliedschaft zweiter Klasse.

Warum auch nicht? Zwischen der EU und Kiew wird nicht Tacheles geredet, sondern Selbstverleugnung betrieben. Anästhesierende Botschaften sind das Maß der Dinge. So tun, als ob. Wenn „historische“ Momente en masse politische Rationalität ersetzen, bleibt eben nur das als Ultima Ratio.

QOSHE - Meinung | EU-Gipfel: Die Entscheidung zur Ukraine ist eher taktisch als „historisch“ - Lutz Herden
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Meinung | EU-Gipfel: Die Entscheidung zur Ukraine ist eher taktisch als „historisch“

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15.12.2023

Es muss in dieser Hinsicht nichts zwischen den Zeilen gelesen, sondern kann getrost beim Wort genommen werden, was gesagt wird. Bei seinem dritten Besuch in Washington seit Beginn des Ukraine-Krieges ist Wolodymyr Selenskyj in dieser Woche nicht unbedingt auf taube Ohren gestoßen – auf eine andere Wortwahl seiner Gastgeber schon. Hatte Präsident Joe Biden bisher stets beteuert, man werde die Ukraine unterstützen, „so lange wie irgendwie nötig“, bekam deren Staatschef nun zu hören: „Wir werden die Ukraine mit Waffen beliefern, solange wir können.“

Das klingt abgeschwächter und konditionierter als bisher. „Solange“ heißt wie lange? Schon Anfang des Jahres dürfte sich bemerkbar machen, dass die Mehrheit der Republikaner im Repräsentantenhaus, dazu die republikanischen Mandatsträger im Senat, 60 Milliarden Dollar blockieren, mit denen ein fortgesetzter, womöglich noch forcierter Waffentransfer der USA finanziert werden soll. Und auf der Schwelle zum Jahr der US-Präsidentenwahl werden sich die Gegner des designierten Kandidaten Biden jede Konzilianz verkneifen und ihr Junktim Ukraine-Hilfe gegen........

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