Sie stürmten ins Zimmer und zogen den Jungen unter einem Bett hervor. Seine braunen Augen weiteten sich vor Todesangst, als sie ihm eine Waffe an die Schläfe hielten. Dann fielen zwei Schüsse. Nadifa Ismail wollte zu ihrem Sohn, doch die Eindringlinge schoben sie aus dem Haus, das Augenblicke später von den bewaffneten Männern in Brand gesetzt wurde. So verbrannten der Körper ihres Kindes und alles, was Nadifa Ismail je besaß.

Wochen später, am 28. Februar, musste sie – inzwischen ein mittelloser Flüchtling – in der Region Darfur mit staubbedeckter Kleidung an der paramilitärischen Gruppe vorbei, die ihren Sohn getötet hatte. Nadifa war an diesem Tag die 212. Person, die es über den Grenzübergang in Richtung der Stadt Adré im Osten des Tschad schaffte.

Wie andere zuvor gab die 38-Jährige später zu Protokoll, dass die Zustände in Darfur, einer riesigen Region im Westen des Sudan, schrecklich seien. Es komme jeden Tag zu neuen Gräueltaten. Diese und viele andere Aussagen belegen, dass ethnische Säuberungen ein endloser, grauenhafter Albtraum sind. Frauen werden vor den Augen ihrer Kinder vergewaltigt, Töchter vor den Augen ihrer Mütter – Jungen auf der Straße erschossen oder verschleppt, ohne jemals wieder aufzutauchen.

Alles spricht dafür, dass die Rapid Support Forces (RSF) – die mächtigste paramilitärische Gruppierung im Sudan – zusammen mit anderen arabischen Milizen darauf bedacht sind, Völkermord am Volk der Masalit, einer dunkelhäutigen afrikanischen Ethnie, zu verüben. Sie wollen vollenden, was vor 20 Jahren begann. Berichte aus Darfur beschreiben ein Gebiet, das durch umherziehende RSF-Kommandos einem tödlichen Wahn ausgesetzt ist.

Vor ihrem Übertritt in den Tschad waren Nadifa – sie gehört zum Volk der Masalit – und ihre fünf Töchter auf der Flucht vor den Milizen, sie fanden Schutz in verlassenen Häusern und leeren Schulen. Nadifa wollte mit dem überlebenden Teil ihrer Familie ein Land verlassen, das für seine Bewohner zu einem Abgrund an Horror und Grauen wurde. Vor Monaten schon brach die internationale Hilfe zusammen oder lief ins Leere. Die Zustände im Sudan warfen einmal mehr die Frage nach der Lebensfähigkeit eines globalen humanitären Systems auf, das längst an Grenzen seiner Leistungsfähigkeit stößt. Hochrangige UN-Mitarbeiter warnen inzwischen, dass der Tschad nicht auch noch aufgegeben werden dürfe, das sei eine Herausforderung für Afrika, genauso für Europa.

Seit der Konflikt zwischen den Paramilitärs der RSF und den regulären Militärs der Armee am 15. April 2023 begann, haben mindestens 554.000 Sudanesen die Grenze zum Tschad überquert und Zuflucht in einem Land gefunden, das zu den ärmsten Afrikas gerechnet wird und mittlerweile pro Kopf der Bevölkerung mehr Flüchtlinge als irgendein Staat sonst aufgenommen hat. Die Zahl der Hilfesuchenden steigt von Woche zu Woche. Je größer die Not ist, desto weniger steht zur Verfügung, um zu helfen. Nadifa und ihre Kinder leben im Lager bei Adré in provisorischen Unterkünften von der Hand in den Mund. Alle anderen offiziellen Flüchtlingscamps sind voll. Um die Krise im Tschad zu bewältigen, benötigte das Flüchtlingshilfswerk UNHCR in diesem Jahr gut 320 Millionen Dollar – bisher sind gerade einmal vier Prozent davon gesichert. Jenseits der Grenze sieht es nicht besser aus, denn auch für Darfur sind nur vier Prozent der unverzichtbaren Hilfsmaßnahmen verlässlich finanziert. Das UN-Welternährungsprogramm (WFP) warnt davor, dass lebensrettende Programme im Tschad und Sudan ganz eingestellt werden. So gleicht ein bestenfalls marginaler humanitärer Beistand dem Kampf gegen ein tobendes Inferno, während langsam die Ressourcen versiegen.

„Wir haben viele Menschen aus dem Sudan vor einer Katastrophe gerettet, aber haben wir ihnen damit ein neues Leben geben können? Oder so etwas wie Hoffnung?“, fragt ein hochrangiger UNHCR-Mitarbeiter im Tschad. „Ein Teenager wird in wenigen Stunden verstehen, dass es hier keine Zukunft gibt.“ Berichte aus Flüchtlingslagern im Osten des Tschad würden deshalb darauf hindeuten, dass ein Exodus im Gange sei – die Suche nach dem Ausweg Europa. Nach Angaben des UNHCR sind von den Insassen des Lagers bei Adré bereits 24 im Mittelmeer ertrunken und knapp hundert in Libyen festgenommen worden. Bis zu 2.000 Menschen hätten es hingegen nach Europa geschafft, auch wenn eine solche Bilanz nicht verifiziert werden kann. Es zeichnet sich ab, dass ohne externe Unterstützung die Bewegung sudanesischer Flüchtlinge aus dem Tschad explodiert. Für Italien ist das der Fall, seit in den letzten sechs Monaten des zurückliegenden Jahres die Zahl der dort ankommenden Sudanesen im Vergleich zu 2022 um 450 Prozent auf über 5.000 stieg. Premierministerin Giorgia Meloni reagierte darauf, indem sie in Rom eine internationale Konferenz über den Umgang mit der Migration aus Afrika veranstaltete. Der Tschad gehörte nicht zu den Geladenen, obwohl Regierungsbeamte darum gebeten hatten, dabei sein zu können.

Ende 2023 besuchte Anna Bjerde, geschäftsführende Direktorin der Weltbank, das Flüchtlingslager Forchana im Osten des Tschad, um Finanzmittel in Höhe von 340 Millionen Dollar anzukündigen, damit dem Land „bei der Bewältigung mehrerer Schocks“ geholfen werde. Das Geld kam nicht an. „Wo ist es? Ist es woanders gelandet?“, fragt ein internationaler Helfer in Forchana. Bisher hat die Weltbank keine Auskunft erteilt. Es handelt sich nicht um die einzige hochkarätige Ankündigung, die ohne Wirkung blieb.

Effektiv versuchte die EU zu sein, als sie mit Tunesien ein Antimigrationsabkommen schloss, bei dem mehr als Hundert Millionen Euro dafür vorgesehen sind, die Grenzen zu schließen und Flüchtlinge in den Tschad zurückzuführen. Mehr als 200 Tage später ist unklar, ob Sudanesen aus Tunesien, dem Ausgangspunkt für die meisten Mittelmeer-Flüchtlinge, wirklich in den Tschad zurückgebracht wurden. Jedenfalls scheint der umstrittene Deal EU-Tunesien weit davon entfernt zu sein, die von Europa gewünschte künstliche Grenze in Afrika zu ziehen. Eher hat Tunesien nun zusätzliche Probleme mit der Aufnahme von Migranten.

Aufschlussreich ist der Umstand, dass die EU als einer der größten Geber des Tschad beschlossen hat, die Mittel in diesem Jahr zu kürzen und 20 Prozent weniger als 2023 bereitzustellen. Analysten urteilen, dass die Gebermüdigkeit zunehme, der Gaza- und Ukraine-Krieg der Grund dafür seien. Kelly Clements, stellvertretende Hochkommissarin des UN-Flüchtlingshilfswerks, glaubt, das globale humanitäre Modell stehe an einem Scheideweg. Teile der Geberländer würden allmählich des „Konzepts der Not“ überdrüssig. „Mir wird von Spendern gesagt, dass sich ‚ein Hilfsbedürfnis‘ als Konzept nicht gut genug verkaufe, um eine Reaktion hervorzurufen.“ Die Welt ignoriere absichtlich eine Krise, die uns alle betrifft, weil der Tschad für niemanden Priorität habe.

Es war wieder ein Morgen in Darfur, als sich das wiederholt, was Nadifa Ismail und ihre Familie traf. Huda Suleiman bereitete Omeletten zum Frühstück, als kurz nach acht Uhr ihr Haus in Ardamata, einem Masalit-Viertel im Westen der Region, bebte. In Panik rannte die 34-Jährige mit ihren drei Kindern nach draußen. Eine Gruppe von Milizionären tauchte auf. Einer trug eine große Axt und fragte: „Masalit?“ Als Huda nickte, begannen die Männer mit Knüppeln auf sie einzuschlagen, zerrten sie ins Haus des Nachbarn und vergewaltigten sie. Huda erstarrte vor Schreck, als sie begriff, dass sich zwei ihrer Kinder in einer Toilette neben dem Ort versteckt hatten, an dem sie misshandelt wurde. Sie hatten alles gesehen. „Für sie habe ich mich zusammengerissen“, erzählt Huda, „aber innerlich wollte ich sterben.“ Tagelang versteckten sie sich danach in Ardamata und warteten auf die Rückkehr des 19-jährigen Sohnes, der während des Angriffs verschwunden war. Einen Monat zuvor, im November 2023, hatten die RSF mit dem ethnisch motivierten Amoklauf in Ardamata begonnen, Hunderte von Zivilisten gefoltert und getötet. Es existieren Videos, die das Auspeitschen von Masalit zeigen.

Hudas Sohn kam nicht mehr nach Hause. Sie hofft zwar weiter, dass er eines Tages wieder auftaucht, aber wie soll er wissen, dass sie im Tschad in einem Camp zu überleben versucht. Es liegt nur einen Kilometer von der Grenze mit Darfur entfernt und ist der Gefahr grenzüberschreitender Razzien der RSF-Milizen ausgesetzt. „Ich spüre noch immer die körperlichen Schmerzen, die mir durch die Vergewaltigung zugefügt worden sind“, sagt Huda und blickt nach Osten, in Richtung Darfur.

Dirk Townsend ist Senior-Reporter des Guardian für globale Entwicklungsfragen

QOSHE - Krieg im Sudan | „Hier gibt es keine Zukunft“: Sudanesische Flüchtlinge im Tschad - Mark Townsend
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Krieg im Sudan | „Hier gibt es keine Zukunft“: Sudanesische Flüchtlinge im Tschad

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08.04.2024

Sie stürmten ins Zimmer und zogen den Jungen unter einem Bett hervor. Seine braunen Augen weiteten sich vor Todesangst, als sie ihm eine Waffe an die Schläfe hielten. Dann fielen zwei Schüsse. Nadifa Ismail wollte zu ihrem Sohn, doch die Eindringlinge schoben sie aus dem Haus, das Augenblicke später von den bewaffneten Männern in Brand gesetzt wurde. So verbrannten der Körper ihres Kindes und alles, was Nadifa Ismail je besaß.

Wochen später, am 28. Februar, musste sie – inzwischen ein mittelloser Flüchtling – in der Region Darfur mit staubbedeckter Kleidung an der paramilitärischen Gruppe vorbei, die ihren Sohn getötet hatte. Nadifa war an diesem Tag die 212. Person, die es über den Grenzübergang in Richtung der Stadt Adré im Osten des Tschad schaffte.

Wie andere zuvor gab die 38-Jährige später zu Protokoll, dass die Zustände in Darfur, einer riesigen Region im Westen des Sudan, schrecklich seien. Es komme jeden Tag zu neuen Gräueltaten. Diese und viele andere Aussagen belegen, dass ethnische Säuberungen ein endloser, grauenhafter Albtraum sind. Frauen werden vor den Augen ihrer Kinder vergewaltigt, Töchter vor den Augen ihrer Mütter – Jungen auf der Straße erschossen oder verschleppt, ohne jemals wieder aufzutauchen.

Alles spricht dafür, dass die Rapid Support Forces (RSF) – die mächtigste paramilitärische Gruppierung im Sudan – zusammen mit anderen arabischen Milizen darauf bedacht sind, Völkermord am Volk der Masalit, einer dunkelhäutigen afrikanischen Ethnie, zu verüben. Sie wollen vollenden, was vor 20 Jahren begann. Berichte aus Darfur beschreiben ein Gebiet, das durch umherziehende RSF-Kommandos einem tödlichen Wahn ausgesetzt ist.

Vor ihrem Übertritt in den Tschad waren Nadifa – sie gehört zum Volk der Masalit – und ihre fünf Töchter auf der Flucht vor den Milizen, sie fanden Schutz in verlassenen Häusern und leeren Schulen. Nadifa wollte mit dem überlebenden Teil ihrer Familie ein Land verlassen, das für seine Bewohner zu einem Abgrund an Horror und Grauen wurde. Vor Monaten schon brach die internationale Hilfe zusammen oder lief ins Leere. Die Zustände im Sudan warfen einmal mehr die........

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