Warteschlange in der Notaufnahme, Mittwochmorgen, um viertel vor sieben. Ein Schuljunge ist auf die Hand gefallen; ein Opa hält seine Rückenschmerzen nicht aus; daneben ich, mit 38 Grad Fieber und einer Schürfwunde am Knie, die sich nach einer Woche entzündet hat und von der aus ein zehn Zentimeter langer roter Streifen entlang des Lymphkanals abgeht.

Das Wartezimmer ist improvisiert, weil gerade umgebaut wird. An uns Notfällen rauschen nicht nur weiße Kittel, sondern auch Monteure im Blaumann vorbei. Gut, dass investiert wird, denke ich. Das RWI Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung beziffert den Investitionsstau allein in nordrhein-westfälischen Krankenhäusern – wo ich mich befinde – auf 13,8 Milliarden Euro.

Dann nimmt mich eine Pflegekraft auf. Sie regelt den Papierkram, schreibt einen Notfallbericht, nimmt mir Blut ab, misst Puls, Körpertemperatur und so weiter. Danach erstmal wieder ins Wartezimmer. Mittlerweile sitzen dort zwei neue Notfälle. Als die Ärztin mich hineinholt, muss ich alles von vorne erklären, auch sie schreibt wieder einen Notfallbericht. Die Wunde sieht nicht gut aus. Lymphangitis, so die Diagnose. Sie macht ein Foto, damit der Oberarzt in der Besprechung entscheiden kann, ob ich bleiben muss. In der Zwischenzeit muss ich zum Röntgen, falls auch Knochen betroffen sein sollten.

Tatsächlich werde ich bleiben. Mit einer solchen Entzündung sei nicht zu spaßen. Ob ich privatversichert sei, werde ich gefragt. Nein. Eine Zusatzversicherung habe ich aber, fällt mir dann ein, sogar für ein Einbettzimmer. Die bringt aber nichts, denn: Die „Komfortstation“ ist komplett voll. Freie Betten gibt es nur auf Station 1, die aber sei neu gemacht. In Ordnung, sage ich, Hauptsache mir wird schnell geholfen. Bis ich auf das Zweibettzimmer mit frisch gestrichenen Wänden und modernem Flachbildfernseher darf, muss ich allerdings noch drei Stunden warten. Von der Aufnahme bis zum Antibiose-Tropf sind fünf Stunden vergangen. Ganz schön lange dafür, dass die Entzündung so weit fortgeschritten war.

Zweieinhalb Tage verbringe ich in diesem Zimmer. Alle acht Stunden eine neue Infusion. Ärzte sehe ich nur morgens, zur Visite. Man brauchte die Uhr nicht stoppen, um zu wissen: Ein Auto zu betanken dauert länger als eine Visite. Die Zeit drängt. Zweifelsohne: Die Pflegekräfte sind bemüht und freundlich, aber gedanklich immer schon beim nächsten Patienten, das sieht man ihnen an. Ich mache nicht viel Arbeit, außer der Infusion bekomme und brauche ich nichts – ausgenommen ein paar Kaltkompressen.

Wären nur alle so wie ich, ließ die Nachtpflegerin fallen, als sie um 21 Uhr meinen gelegten Zugang vom Tropf entfernt. Während ich schlafe, mutiert sie zur Heldin in der Nacht. Einen Kollegen hat sie in ihrer Schicht. Beide eilen von Zimmer zu Zimmer. Um 5:40 Uhr kommt sie bei mir rein, sichtlich erschöpft. „So, guten Morgen, einmal den Arm, bitte“. Ich hoffe, dass meine nächste Infusion ihr Feierabend ist. So sehen echte Helden aus. Von denen gibt es aber zu wenige in Deutschlands Krankenhäusern. Schon heute fehlen einer neuen Studie von PwC zu Folge fast 300.000 Stellen in der Gesundheitsversorgung. Viele Alte gehen in Rente, immer mehr steigen aus, weil sie ausbrennen. Bis 2035, wenn die Boomer in Rente gehen, könnte jede dritte Stelle unbesetzt sein.

Neben mir liegt der Opa aus der Notaufnahme. Nennen wir ihn A. A ist 85 Jahre alt, früher war er Schlosser, seine Frau sitzt im Rollstuhl, Pflegegrad 3, kann ihn nicht besuchen. Er kann vor Schmerzen nicht mehr gehen, schon kaum liegen. Röntgenbilder zeigen: Ein Bandscheibenvorfall drückt auf den Nerv. Wir kommen gut miteinander aus, teilen das Essen, das unser Besuch uns mitbringt, gucken am Abend das Spiel der Frauen-Nationalmannschaft. Sein Herz trägt er auf der Zunge. Nur in Sachen Politik liegen wir Welten auseinander. Wenn er morgens die Bild liest, meckert er über das „Arschloch“ Weselsky (immerhin: Putin nennt er einen „Dreckssack“, da kann ich zustimmen), überbezahlte Politiker und Entwicklungshilfe für Radwege in Peru. Wir debattieren, aber freundlich, nicht verbittert, dafür fehlt uns beiden die Kraft.

„Wer hier mittlerweile alles reinkommt“, schimpft er in Anspielung auf Zahlen zu Flucht und Migration. Keine zwei Sekunden später kommt der Orthopäde. Es geht um seine Behandlung. Erst nur eine Spritze, womöglich aber eine OP. Sein Deutsch sei nicht perfekt, bittet der Arzt um Verständnis, bevor er A. die Risiken erklärt und einen Zettelwust unterschreiben lässt. Das müsse in Deutschland eben sein, Bürokratie-Wahnsinn. Beide lachen. Niemals aber versteht Opa A. all die Risiken, die er da unterschreibt. Er hört schlecht, seine Auffassungsgabe ist alterslahm, dann noch das gebrochene Deutsch. Er scheint dem Arzt aber zu vertrauen. Muss er aber auch. Was ist seine Alternative?

„Sehr nett“, sagt er über den Arzt. Aus Bulgarien stammt er. Genauso wie sein Oberarzt. Die Ärztin aus der Notaufnahme war aus Serbien. Eine Pflegekraft aus Indien, zwei aus Rumänien, viele andere aus anderen Teilen der Welt. Klar ist: Im Gesundheitswesen liefe nichts ohne Einwanderung. Gar nichts. Null Komma null. Da stimmt mir Opa A. sogar zu. Lobt häufiger, wie gut viele der Pfleger und Ärzte Deutsch sprechen. Dass er vorher beim Bild-Lesen gemeckert hat, ist für ihn kein Widerspruch. Laut Mikrozensus von 2019 hat ein Viertel aller Erwerbstätigen im Gesundheitsbereich eine eigene oder familiäre Einwanderungsgeschichte, bei Ärzten sind es sogar 27,3 Prozent. Gleichzeitig fehlen die Ärzte in Bulgarien und Rumänien. Unsere Rettung ist deren Braindrain, die Kehrseite der Medaille.

Und dann ist da noch das Essen. Es soll offensichtlich kostensparend satt machen, nicht aber zur Genesung beitragen. Frisches Obst oder Gemüse? Gibt es nicht. Stattdessen: trockene Käsebrote und fettigen Kartoffelgratin. Die werden meine Entzündungswerte aber wohl kaum gesenkt haben.

Immerhin: Ich bin wieder zuhause, mir geht es besser. Ich hoffe, A. kann das in zwei Wochen auch von sich sagen. Den Krankenhäusern aber geht es schlecht. Die Beschäftigten müssen die Systemfehler ausmerzen. Das kann auf Dauer nicht gut gehen in einem alternden Land. Wie in vielen anderen Bereichen auch: Es muss endlich investiert werden!

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Gesundheit | Klassenkampf im Hospital: Kommt ein Ökonom ins Krankenhaus

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05.03.2024

Warteschlange in der Notaufnahme, Mittwochmorgen, um viertel vor sieben. Ein Schuljunge ist auf die Hand gefallen; ein Opa hält seine Rückenschmerzen nicht aus; daneben ich, mit 38 Grad Fieber und einer Schürfwunde am Knie, die sich nach einer Woche entzündet hat und von der aus ein zehn Zentimeter langer roter Streifen entlang des Lymphkanals abgeht.

Das Wartezimmer ist improvisiert, weil gerade umgebaut wird. An uns Notfällen rauschen nicht nur weiße Kittel, sondern auch Monteure im Blaumann vorbei. Gut, dass investiert wird, denke ich. Das RWI Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung beziffert den Investitionsstau allein in nordrhein-westfälischen Krankenhäusern – wo ich mich befinde – auf 13,8 Milliarden Euro.

Dann nimmt mich eine Pflegekraft auf. Sie regelt den Papierkram, schreibt einen Notfallbericht, nimmt mir Blut ab, misst Puls, Körpertemperatur und so weiter. Danach erstmal wieder ins Wartezimmer. Mittlerweile sitzen dort zwei neue Notfälle. Als die Ärztin mich hineinholt, muss ich alles von vorne erklären, auch sie schreibt wieder einen Notfallbericht. Die Wunde sieht nicht gut aus. Lymphangitis, so die Diagnose. Sie macht ein Foto, damit der Oberarzt in der Besprechung entscheiden kann, ob ich bleiben muss. In der Zwischenzeit muss ich zum Röntgen, falls auch Knochen betroffen sein sollten.

Tatsächlich werde ich bleiben. Mit einer solchen Entzündung sei nicht zu spaßen. Ob ich privatversichert sei, werde ich gefragt. Nein. Eine Zusatzversicherung habe ich aber, fällt mir dann ein, sogar für ein Einbettzimmer.........

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