Dass nun wenigstens 50 israelische Hamas-Geiseln freikommen, im Austausch gegen dreimal so viele palästinensische Frauen und Kinder in israelischen Gefängnissen, ist eine gute Nachricht, die nicht nur in Israel selbst, sondern auf der ganzen Welt Erleichterung hervorrufen wird. Nicht nur, weil eine baldige Wiederholung des Abkommens, bei dem noch mehr und schließlich vielleicht alle noch lebenden Geiseln nach Israel zurückkehren können, nicht ganz unwahrscheinlich ist, sondern vor allem auch, weil sich Hoffnungen auf eine Fortsetzung des Verhandlungsprozesses, auf eine Beendigung des Krieges, ja auf einen neuen Versuch, den israelisch-palästinensischen Konflikt aus der Sackgasse zu holen, damit verbinden.

Voraussetzung ist freilich, dass die vereinbarte Waffenruhe von beiden Seiten eingehalten wird. Aber die Chancen stehen gut, denn das Abkommen ist so angelegt, dass die Leistungen, die sich die israelische Armee und die Hamas auferlegt haben, wie Zahnräder ineinandergreifen, sodass die Einhaltung von Stunde zu Stunde wechselseitig kontrolliert werden kann. Auch haben beide Seiten Grund, am Gelingen stark interessiert zu sein.

Dabei zahlt die israelische Regierung einen hohen Preis. Wäre nicht Druck auf sie ausgeübt worden, von großen Teilen der israelischen Bevölkerung wie auch von den Freunden Israels im Westen – nicht zuletzt denen in Washington -, wäre kaum zu erwarten gewesen, dass sie sich auf ein solches Abkommen eingelassen hätte. Noch am Dienstag, als das Abkommen schon so gut wie besiegelt gewesen sein muss, da Einzelheiten bereits gemeldet wurden, wiederholte der israelische Premier Netanjahu während eines Treffens seines Kriegskabinetts mit Geisel-Angehörigen, für ihn sei das Ziel, die Hamas zu vernichten, mit der Geisel-Befreiung gleichrangig.

Nun hat Netanjahu aber nicht nur der langen, mindestens viertägigen Feuerpause zustimmen müssen, was ein Teil seines Kabinetts stets abgelehnt hatte, sondern die Hamas konnte auch ihre Forderung, während der Kampfpause dürften keine israelischen Flugzeuge über Gaza fliegen, fast vollständig durchsetzen. Um diesen Punkt scheint bis zuletzt heftig gerungen worden zu sein. Das Ergebnis ist nun, dass im Norden Gazas sechs Stunden Flugbewegungen täglich, im Süden gar keine während der Kampfpause zulässig sind. Und jeden Tag werden Lieferungen humanitärer Hilfe Gaza erreichen.

Die westlichen Freunde Israels scheinen nicht mehr gewillt, der israelischen Politik tatenlos zuzusehen. Zu gefährlich sind die Folgen der beharrlichen Weigerung aller Netanjahu-Regierungen, die Zwei-Staaten-Lösung in Israel-Palästina zuzulassen. Laut mag man im Westen zwar sagen, das brutale Massaker der Hamas-Terrormilizen am 7. Oktober habe mit jener Weigerung überhaupt nichts zu tun, und mag die Äußerung des UN-Generalsekretärs, das Massaker sei doch nicht „im luftleeren Raum“ passiert, mit Stillschweigen übergangen werden. Aber weiter kommt der Westen den israelischen Rechtsradikalen nicht mehr entgegen.

Sogar die FAZ, die vor Kurzem erst schrieb, mit seinem Kommentar zum Gaza-Krieg im Freitag habe sich der Philosoph Slavoj Zizek ein für alle Mal disqualifiziert, druckte jetzt selbst einen Beitrag ab – von Gil Murciano, dem Leiter des Israel Instituts für regionale Außenpolitik -, in dem es heißt, das „grundlegendste Hindernis für einen wirklichen Sieg über die Hamas“ sei die Netanjahu-Regierung selbst, „die es vorzog, die Hamas zu bestechen, um eine Wiederaufnahme des politischen Prozesses mit den Palästinensern zu vermeiden, und deren messianische Extremisten dieser Tage das Westjordanland in Brand setzen“.

So geht es nicht weiter, das scheinen nun viele zu begreifen. Gerade weil es stimmt, dass die israelische Bevölkerung sich an Auschwitz erinnert fühlen muss, wenn sie sich 80 Jahre danach den grausamen Morden des 7. Oktober ausgesetzt sieht, geht es so nicht weiter. Israel soll doch keine Zielscheibe bewaffneter Angriffe sein, sondern ein Ort, an dem Juden und Jüdinnen friedlich leben, an dem sie aufatmen können.

So ein Ort ist Israel nur, wenn es für den Frieden etwas tut. Nur die Hamas vernichten wollen, reicht nicht aus. Selbst wenn es gelänge, den Hamas-Kopf abzuschlagen, würden doch andere, noch teuflischere Köpfe nachwachsen. Einer Regierung, die das nicht begreifen will, muss endlich entschlossen entgegentreten werden. Doch es bleibt nicht viel Zeit. Denn wenn Donald Trump im nächsten Jahr die US-Wahlen gewinnt, hat Netanjahu wieder einen mächtigen Verbündeten.

QOSHE - Meinung | Waffenruhe im Gaza-Krieg: Es bleibt nicht viel Zeit - Michael Jäger
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Meinung | Waffenruhe im Gaza-Krieg: Es bleibt nicht viel Zeit

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22.11.2023

Dass nun wenigstens 50 israelische Hamas-Geiseln freikommen, im Austausch gegen dreimal so viele palästinensische Frauen und Kinder in israelischen Gefängnissen, ist eine gute Nachricht, die nicht nur in Israel selbst, sondern auf der ganzen Welt Erleichterung hervorrufen wird. Nicht nur, weil eine baldige Wiederholung des Abkommens, bei dem noch mehr und schließlich vielleicht alle noch lebenden Geiseln nach Israel zurückkehren können, nicht ganz unwahrscheinlich ist, sondern vor allem auch, weil sich Hoffnungen auf eine Fortsetzung des Verhandlungsprozesses, auf eine Beendigung des Krieges, ja auf einen neuen Versuch, den israelisch-palästinensischen Konflikt aus der Sackgasse zu holen, damit verbinden.

Voraussetzung ist freilich, dass die vereinbarte Waffenruhe von beiden Seiten eingehalten wird. Aber die Chancen stehen gut, denn das Abkommen ist so angelegt, dass die Leistungen, die sich die israelische Armee und die Hamas auferlegt haben, wie Zahnräder ineinandergreifen, sodass die Einhaltung von Stunde zu Stunde wechselseitig kontrolliert werden kann. Auch haben beide Seiten Grund, am Gelingen stark interessiert zu........

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