Keine Documenta ohne Skandal. Die 14. Ausgabe der Kasseler Weltkunstschau hat zum Beispiel ihr Budget überzogen; die 15. Ausgabe konnte dieses Defizit wieder einspielen. Das war möglich, weil es keine teure Satellitenausstellung gab und wenige Blockbuster-Kunstwerke. Es ging um das persönliche Zusammensein, etwas, das bei den konzeptuell anspruchsvollen Ausstellungen früherer Jahre vielleicht zu kurz kam. Eine tolle Verschränkung: Die Stadt war Gastgeberin der Kunstschau, und die Bewohner*innen der Stadt waren Gäste, und zugleich, das ergab eine Untersuchung des Documenta-Instituts, waren sie stolz auf ihre Kunstschau.

Bloß was, wenn noch ein ungebetener Gast vorbeikommt? Ein riesiges Banner, das antisemitische Ikonografie enthält, mitten auf dem Friedrichsplatz vor dem Fridericianum? Ein Filmkollektiv, das die Propagandafilme von terroristischen Gruppen weitgehend unkommentiert zeigt? Antisemitische Karikaturen? Die Debatte begann schon Monate vor der Eröffnung, damals ging es noch um die Nähe einiger Kurator*innen zur Israel-Boykott-Bewegung BDS, und sie wurde während der gesamten Laufzeit fortgesetzt.

Vielleicht hat diese Ausgabe der Ausstellung auch eine latente politische Dimension zutage gefördert. Ganz am Anfang, 1955, sollte die Documenta an die Moderne anknüpfen, die so jäh vom deutschen Faschismus unterbrochen wurde. Lange wurde sie als das große Demokratieprojekt der jungen Bundesrepublik gesehen, das über die Jahrzehnte zur, nun ja, Weltkunstschau geworden ist: immer globaler, eine Ausstellung, die die ganze Gegenwart abbildet. Erst spät wurde weithin bekannt, dass einer der Gründer selbst eine Nazi-Vergangenheit hatte. Vielleicht, so sagte die Antisemitismusforscherin Yael Kupferberg einmal, habe diese Documenta den Deutschen einfach den Spiegel vorgehalten, womöglich hat sie deshalb so provoziert.

Die Skandale überdauern ihre Laufzeit wie ein unheimliches Nachleben. Vor einigen Tagen wurde bekannt, dass Ranjit Hoskoté, Mitglied der Findungskommission, eine Petition von BDS India unterzeichnet hat – zwar schon 2019, aber er hielt seine Unterstützung geheim. Kurz darauf zog sich die israelische Künstlerin, Philosophin und Psychoanalytikerin Bracha Lichtenberg Ettinger aus der Kommission zurück. Sie hatte nach dem Angriff der Terrormiliz Hamas vergeblich um die Verschiebung von Sitzungen gebeten. Wenig später löste sich das Gremium ganz auf. Eine Begründung wurde bei e-flux veröffentlicht: „Wenn Kunst den komplexen kulturellen, politischen und sozialen Realitäten der Gegenwart gerecht werden soll, braucht sie angemessene Bedingungen, die diverse Perspektiven, Wahrnehmungen und Diskurse erlauben.“ Diese Bedingungen seien in der öffentlichen Debatte in Deutschland nicht gegeben.

Der implizite Vorwurf im Nachgang der Documenta Fifteen war, dass deutsche Erinnerungskultur und Solidarität mit Israel einen offenen Austausch abschnürten. Eine ganz provinzielle Haltung, so die Klage. Dabei – so sagte es Meron Mendel, der Leiter der Bildungsstätte Anne Frank am Wochenende bei einem Symposium – sei der Holocaust eben singulär für Deutsche und Jüdinnen*Juden und deshalb der Provinzialitätsvorwurf aus dem internationalen Kunstbetrieb so überheblich.

Ein Kurator*innenteam für die kommende Documenta wird gerade noch nicht gesucht, und das ist sicher gut: Auf der 16. Documenta lastet eine besonders große Verantwortung.

QOSHE - Meinung | Das unheimliche Nachleben der Documenta Fifteen - Philipp Hindahl
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Meinung | Das unheimliche Nachleben der Documenta Fifteen

7 0
22.11.2023

Keine Documenta ohne Skandal. Die 14. Ausgabe der Kasseler Weltkunstschau hat zum Beispiel ihr Budget überzogen; die 15. Ausgabe konnte dieses Defizit wieder einspielen. Das war möglich, weil es keine teure Satellitenausstellung gab und wenige Blockbuster-Kunstwerke. Es ging um das persönliche Zusammensein, etwas, das bei den konzeptuell anspruchsvollen Ausstellungen früherer Jahre vielleicht zu kurz kam. Eine tolle Verschränkung: Die Stadt war Gastgeberin der Kunstschau, und die Bewohner*innen der Stadt waren Gäste, und zugleich, das ergab eine Untersuchung des Documenta-Instituts, waren sie stolz auf ihre Kunstschau.

Bloß was, wenn noch ein ungebetener Gast vorbeikommt? Ein riesiges Banner, das antisemitische Ikonografie enthält, mitten auf dem Friedrichsplatz vor dem Fridericianum? Ein Filmkollektiv, das die Propagandafilme von........

© der Freitag


Get it on Google Play