Als Carlos und Tobi das Selfie betrachten, müssen beide sofort lachen. Das Bild zeigt drei Jungs in einer S-Bahn auf dem Rückweg von Frankfurt am Main nach Hanau. Die herunterhängenden Augenlider und das leicht verklärte Lächeln von Carlos und Tobi auf dem Foto können nicht verbergen, dass es ein lustiger Abend gewesen sein muss. Hinter den beiden ist leicht verschwommen ihr Freund Ferhat zu erkennen. Wie auf dem Rücksitz eines Autos blickt er mit leicht verschmitztem Lächeln in die Kamera des Smartphones. „Da hatten wir ordentlich was intus“, erinnert sich Carlos lachend, während Tobi sich die Hand an die Stirn legt. „Diese Nacht war crazy, da sind noch ganz andere Bilder entstanden.“

Die Erinnerungen führen sie zurück an das Ende des Jahres 2017, Anfang 2018 – eine Zeit, die sie als die beste ihres Lebens beschreiben. Sie waren Teil eines eng verbundenen Freundeskreises, damals im ersten Lehrjahr, um die 18, 19 Jahre alt.

Obwohl Carlos und Tobi dieses Foto schon unzählige Male betrachtet haben, verweilen ihre Blicke lange darauf, besonders auf ihrem nur schemenhaft erkennbaren Freund auf dem Rücksitz. Ihr Freund Ferhat ist Ferhat Unvar, einer der neun jungen Menschen, die ein Rechtsradikaler am 19. Februar 2020 in Hanau ermordet hat.

Das Selfie von Carlos, Tobi und Ferhat hängt auf einem Aufsteller im Foyer des Hanauer Kongresszentrums. Dort feiert die nach Ferhat benannte Bildungsinitiative ihren dritten Geburtstag mit einem Festakt. Gegründet hat die Initiative Ferhats Mutter, Serpil Temiz Unvar, noch im selben Jahr des rassistischen Anschlags, an Ferhats Geburtstag.

Auch Carlos und Tobi engagieren sich in der Bildungsinitiative mit. „Wir wollen nicht, dass Ferhat in Vergessen gerät“, sagt Tobi. Dazu passt das Motto der Initiative; ein Satz, den Ferhat drei Jahre vor seinem Tod auf Facebook geteilt hat: „Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst.“

Carlos Fontaíña Matos ist heute 26 und arbeitet als Einzelhandelskaufmann, Tobi heißt Tobias Curtmann, ist 24 und Informatikkaufmann. Beide leben in Hanau, der Stadt, in der sie auch aufgewachsen sind. In der Bildungsinitiative sind sie mal aktiver, mal weniger, je nachdem, wie viel Zeit neben dem Job noch bleibt. Ein Anlaufpunkt für sind die Räume der Initiative in der Innenstadt aber immer.

Kurz bevor der Festakt beginnt, ziehen Carlos und Tobi noch einmal tief an ihrer Zigarette. Mehr als 200 Menschen sind gekommen, um gemeinsam die Geburtstage von Ferhat und der Bildungsinitiative zu feiern. Hanaus Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) betont in seiner Rede das anhaltende Engagement der Stadt für die Initiative und würdigt die Arbeit von Serpil Temiz Unvar. Ebenso Ferda Ataman, die Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung, die die Gelegenheit nutzt, aktuelle Asylrechtsverschärfungen anzuprangern, wofür sie viel Applaus erhält.

Eine besonders ergreifende Rede hält Astrid Passin. Sie hat am 19. Dezember 2016 ihren Vater Klaus Jacob verloren, als ein Islamist mit einem Lkw in den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz fuhr und zwölf Menschen tötete. Es ist still im Saal, als sie darüber spricht, wie Betroffene den Verlust täglich spüren und warum es so wichtig ist, dem Leiden nicht auszuweichen. Auch andere Angehörige von Terroropfern kommen an diesem Abend zu Wort. Durch Videobotschaften senden etwa ein halbes Dutzend Menschen aus Italien, Griechenland und Spanien, die allen voran durch rechten Terror ihre Liebsten verloren haben, ihre Grüße. Serpil Temiz Unvar hat diese Menschen in den vergangenen Monaten getroffen.

Den Schwerpunkt der Bildungsinitiative bildet die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Bis zum Ende dieses Jahres werden es mehr als 70 Workshops gewesen sein, die die Teamer*innen der Bildungsinitiative vor allem an Schulen, aber auch an Universitäten oder bei Gewerkschaften moderiert haben werden – zu Themen wie den offenen Fragen rund um den 19. Februar, institutionellen Rassismus und Empowerment. Derzeit engagieren sich etwa ein halbes Dutzend hauptamtliche Mitarbeiter und zahlreiche Ehrenamtliche sowie Honorarkräfte für die Initiative in ganz Deutschland. Finanzielle Unterstützung erhält sie vor allem durch Spenden und Gelder des Bundes.

Als sich mehrere Dutzend Aktive der Bildungsinitiative vor der Bühne versammeln und sie dazubitten, ergreift auch Serpil Temiz Unvar das Wort. „Ich schwöre, ich hasse es zu weinen“, gesteht sie, sichtlich bewegt. „Eure Stärke ist beeindruckend, ihr seid wirklich außergewöhnliche Menschen. Ich glaube an euch, denn ihr seid es, die die Zukunft zum Besseren verändern werden.“ Sie berichtet von den Anfängen der Bildungsinitiative. Kaum hatte sie die Idee zu dieser Initiative geäußert, kamen Ferhats Freunde zu ihr, überreichten ihr einen Umschlag mit 125 Euro und erklärten ihre Bereitschaft, sich zu engagieren. „In diesem Moment wurde mir klar, dass ich weiterleben kann“, sagt sie mit bewegter Stimme ins Mikrofon. „Mein Sohn ist nicht mehr hier, doch sein Tod markierte den Beginn unseres Kampfes für eine bessere Zukunft. Unser Ziel ist groß, wir stehen erst am Anfang, aber gemeinsam werden wir es schaffen.“

Der offizielle Teil der Veranstaltung war ursprünglich auf zwei Stunden angesetzt. Gegen Ende, nach mehr als drei Stunden, ergreifen Carlos und Tobi das Mikrofon. Carlos spricht über Ferhat, erzählt gemeinsame Geschichten, Ferhat war ein wahrer Herzensmensch. Tobi hebt hervor, dass die Bildungsinitiative kontinuierlich wächst. Immer mehr Menschen sind aktiv. Was den Erfolg der Bildungsinitiative angeht, sei kein Ende in Sicht.

Nach dem offiziellen Teil bildet sich vor dem Buffet eine lange Schlange. Serpil Temiz Unvar begibt sich auf die Terrasse, stellt sich in den Schneeregen und zündet sich eine Zigarette an. Stolz spricht sie von den „Kindern“, wie sie die Jugendlichen und jungen Erwachsenen der Bildungsinitiative liebevoll nennt. Seit fast 200 Wochen, die seit dem Anschlag vergangen sind, kämpft sie unermüdlich für das Andenken an ihren Sohn – um seinem sinnlosen Tod irgendeinen Sinn zu geben. Von diesem Weg scheint sie niemand abbringen zu können. Sie ließ sich weder von Streitigkeiten noch von Konflikten in Hanau aufhalten noch von der Bedrohung durch den Vater des Täters, der in der Nähe wohnt und sie belästigt hat.

Sie hat sich auch nicht vom Schmerz des Verlusts stoppen lassen, Zeit für Trauer habe sie aber noch nicht gehabt, sagt sie. Mit Absicht. „Trauern würde bedeuten, Ferhats Tod zu akzeptieren, und das will und kann ich nicht“, sagt sie. „Er lebt weiter, solange ich kämpfe. Meine Kraft bekomme ich von ihm.“ Nach einem kurzen Moment, in dem sie sich die Augen wischt, drückt sie die Zigarette aus und kehrt ins Foyer zurück, wo sie noch stundenlang Gespräche führt und Fotos macht.

Stolz und Schmerz sind auch bei Tobi und Carlos eng miteinander verwoben. Auch sie greifen direkt nach der Veranstaltung erst einmal zu einer Zigarette. „Der Schmerz wird niemals vergehen“, gibt Carlos zu verstehen. Tobi berichtet, dass es Tage gibt, an denen der Anschlag nicht in seinen Gedanken präsent ist, bis er zufällig auf Fotos von Ferhat stößt. An anderen Tagen ist dessen Tod das Einzige, woran er denken kann. Carlos meint, er habe gelernt, mit dem Schmerz umzugehen. Wenn die Emotionen ihn bei der Arbeit überwältigen, fängt er sich heute wieder schneller als früher. „Doch sobald mich jemand darauf anspricht, beginnt alles von vorn.“

Tobi blickt nachdenklich auf den Boden, an seiner Zigarette hat er schon länger nicht mehr gezogen. „Es hat kein Ende“, sagt er. Das gilt für die Erfolgsgeschichte der Bildungsinitiative ebenso wie für den lang anhaltenden Kampf gegen Rassismus, von dem Carlos und Tobi wissen, dass er noch Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte, andauern wird. „Es hat kein Ende“ trifft auch auf den Schmerz zu, mit dem sie hier alle umgehen müssen.

QOSHE - Antirassismus | Nach dem rechten Terror in Hanau: Es hat kein Ende - Sebastian Friedrich
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Antirassismus | Nach dem rechten Terror in Hanau: Es hat kein Ende

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30.11.2023

Als Carlos und Tobi das Selfie betrachten, müssen beide sofort lachen. Das Bild zeigt drei Jungs in einer S-Bahn auf dem Rückweg von Frankfurt am Main nach Hanau. Die herunterhängenden Augenlider und das leicht verklärte Lächeln von Carlos und Tobi auf dem Foto können nicht verbergen, dass es ein lustiger Abend gewesen sein muss. Hinter den beiden ist leicht verschwommen ihr Freund Ferhat zu erkennen. Wie auf dem Rücksitz eines Autos blickt er mit leicht verschmitztem Lächeln in die Kamera des Smartphones. „Da hatten wir ordentlich was intus“, erinnert sich Carlos lachend, während Tobi sich die Hand an die Stirn legt. „Diese Nacht war crazy, da sind noch ganz andere Bilder entstanden.“

Die Erinnerungen führen sie zurück an das Ende des Jahres 2017, Anfang 2018 – eine Zeit, die sie als die beste ihres Lebens beschreiben. Sie waren Teil eines eng verbundenen Freundeskreises, damals im ersten Lehrjahr, um die 18, 19 Jahre alt.

Obwohl Carlos und Tobi dieses Foto schon unzählige Male betrachtet haben, verweilen ihre Blicke lange darauf, besonders auf ihrem nur schemenhaft erkennbaren Freund auf dem Rücksitz. Ihr Freund Ferhat ist Ferhat Unvar, einer der neun jungen Menschen, die ein Rechtsradikaler am 19. Februar 2020 in Hanau ermordet hat.

Das Selfie von Carlos, Tobi und Ferhat hängt auf einem Aufsteller im Foyer des Hanauer Kongresszentrums. Dort feiert die nach Ferhat benannte Bildungsinitiative ihren dritten Geburtstag mit einem Festakt. Gegründet hat die Initiative Ferhats Mutter, Serpil Temiz Unvar, noch im selben Jahr des rassistischen Anschlags, an Ferhats Geburtstag.

Auch Carlos und Tobi engagieren sich in der Bildungsinitiative mit. „Wir wollen nicht, dass Ferhat in Vergessen gerät“, sagt Tobi. Dazu passt das Motto der Initiative; ein Satz, den Ferhat drei Jahre vor seinem Tod auf Facebook geteilt hat: „Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst.“

Carlos Fontaíña Matos ist heute 26 und arbeitet als........

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