Zwölf Goldmedaillen bei den Paralympics, viermal Weltmeisterin. Sie kann Ski laufen, schießen und besteigt hohe Berge in Afrika. Aber Verena Bentele, Präsidentin des VdK, des größten Sozialverbands in Deutschland, und ehemalige Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, kann noch viel mehr. Nämlich Politik machen.

Geboren 1982 in Lindau am Bodensee, auf einem Bio-Bauernhof aufgewachsen, ist sie aufgrund einer genetischen Veranlagung blind, wie einer ihrer Brüder. Laufen und Reden also – die einflussreiche Sozial-Lobbyistin redet tatsächlich so schnell, dass unser Transkriptionssystem manchmal aufgegeben hat.

der Freitag: Frau Bentele, Sie haben einmal gesagt: „Ich rede schnell, ich arbeite schnell und ich gehe schnell“, obwohl das manchmal zu Kollisionen führe. Womit sind Sie real oder mit wem politisch zuletzt kollidiert?

Verena Bentele: Physisch kollidiert bin ich zuletzt mit einem Baustellenschild. Heute Morgen ist mein Stock daran vorbeigegangen, und ich bin hängen geblieben. Das Schild steht noch, ich auch, alles gut. Politisch kollidiere ich ganz heftig mit den rechten Bestrebungen und der AfD, die sich gegen Minderheiten, Geflüchtete oder Menschen, die anders sind, äußert. Das sehe ich als große Gefahr.

Seitdem Sie Präsidentin des VdK sind, haben Sie diesen etwas behäbigen Verband ganz schön auf Trab gebracht, gemäß Ihrer Ankündigung, seine Bekanntheit ausbauen zu wollen. Sie scheinen als ehemalige Profisportlerin die richtigen Voraussetzungen mitzubringen ...

Schön, dass Sie diesen positiven Eindruck haben, wir tun auch viel dafür. Kommunikation ist uns ein wichtiges Anliegen. Und es stimmt schon, ich habe sehr viel Power durch meinen Sport, aber auch viel Verständnis dafür, was ein Team bedeutet, in dem alle zusammenarbeiten und sich gegenseitig unterstützen. Auch das ist wichtig in einem Sozialverband. Und ich kann meine Kräfte gut einteilen. Mir geht sehr selten die Luft aus.

Der VdK war ursprünglich eine Selbsthilfeorganisation der Kriegsopfer und ihrer Hinterbliebenen. Inzwischen hat er sich mit 2,2 Millionen Mitgliedern zum größten Sozialverband entwickelt. Wie ist diese Erfolgsgeschichte zu erklären?

Eine Erklärung ist, dass die Menschen in einem komplizierten Sozialstaat Hilfe brauchen für die Leistungen, die ihnen zustehen. Die Sozialversicherungsträger sind mit Ablehnungen schnell bei der Hand. Wir legen für unsere Mitglieder dann Widerspruch ein, vertreten sie vor den Sozialgerichten, wenn es nötig ist, und sind dabei auch sehr erfolgreich. Zum anderen tragen wir sehr eindeutig formulierte Forderungen in die Öffentlichkeit und in die Politik, die von vielen Menschen unterstützt werden. Dazu haben wir ein starkes Ehrenamt vor Ort.

Die derzeitige Situation scheint die Sozialverbände zu einer neuen Gangart zu zwingen. Jüngst haben Sie angeprangert, dass im Zuge der Haushaltseinsparungen in den kommenden Jahren rund zwölf Milliarden Zuschüsse zu den Sozialkassen gestrichen werden. Welche Folgen hat das?

Wir befürchten, dass durch Sparmaßnahmen am Sozialetat der soziale Frieden gefährdet ist. Ein aktuelles Beispiel ist die nicht stattfindende Kindergelderhöhung. Dafür sollen die Steuerfreibeträge für Kinder weiter erhöht werden. Davon profitieren aber nur Menschen, die viel Steuern zahlen. Das macht jetzt schon 118 Euro im Monat Unterschied aus, und das ist sozial extrem ungerecht. Denn je weniger die Eltern für ihre Kinder tun können, desto mehr sollte der Staat für sie tun, und nicht umgekehrt. Anstatt über die Erhöhung der Freibeträge zu diskutieren, sollte lieber der Systemwandel zur Kindergrundsicherung eingeläutet werden. Eine echte Kindergrundsicherung würde die Ungleichbehandlung beheben. Hier muss die Regierung aber den Rotstift beim Konzept der Kindergrundsicherung weglassen. Wir sprechen uns auch explizit gegen Beitragserhöhungen in den Sozialkassen aus, zumindest für die Masse der Beitragszahler. Über die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze für Gutverdienende könnte man sprechen oder auch darüber, wie der Staat seine Einnahmen verbessern kann, etwa durch die Besteuerung hoher Erbschaften oder die Bekämpfung von Steuerhinterziehung. Vorschläge gibt es genug.

Sprechen wir von der Rente. Das ifo Institut hat gerade vorgeschlagen, das Renteneintrittsalter an die Lebenserwartung zu binden, um die Beitragszahler:innen nicht zu sehr zu belasten …

Das nervt mich sehr, da wird immer die gleiche Sau durchs Dorf getrieben. Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung dagegen zeigt, dass Menschen mit höherem Einkommen gesünder sind, besser wohnen, sich gesünder ernähren können und damit eine höhere Lebenserwartung haben. Dass man nun auch von denen, die eine körperlich oder mental anstrengende Arbeit verrichten, fordert, sie sollen länger arbeiten oder mit Abschlägen in Rente gehen, verteilt diese Güter noch einmal zugunsten derjenigen, die ohnehin schon privilegiert sind und eine höhere Rente zu erwarten haben. Das ist nicht fair und löst kein Problem.

Das trifft besonders Frauen. Vor 30 Jahren hat die Deutsche Rentenversicherung einmal prognostiziert, die Frauenaltersarmut würde perspektivisch überwunden. Das Gegenteil ist der Fall, eine neue Studie belegt, dass 42,3 Prozent aller Rentner mit unter 1.250 Euro auskommen müssen, das sind 7,5 Millionen, 5,2 Millionen davon Frauen. Jeder vierte Rentner erhält unter 1.000 Euro. Was ist da passiert?

Es gibt sehr viele Frauen, die in den letzten 30 oder 40 Jahren viel unbezahlte Sorgearbeit geleistet, Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt und deshalb nur Teilzeit gearbeitet haben. Wenn dann irgendwann Lebensrisiken eintreten wie Scheidung, Trennung oder Todesfall, bedeutet das für viele Frauen auch, dass sie nicht so gut versorgt sind. Wir beraten jüngere Frauen immer auch dahingehend, sich aktiv um ihre Absicherung zu bemühen. Darüber hinaus muss die Gesellschaft andere Möglichkeiten bieten, wie einen erleichterten Zugang zur Grundsicherung im Alter. Die Grundrente ist ein guter Ansatz, der aber leider mit zu vielen Eintrittshürden verbunden ist. Viele Frauen kommen gar nicht auf die notwendigen 33 Erwerbsjahre. Und warum verdienen sie immer noch weniger als Männer, obwohl sie im gleichen Job arbeiten? Warum gibt es viel zu wenig Tagesbetreuung für Kinder? Das sind Herausforderungen, die der Staat lösen muss, nicht die einzelne Betroffene.

Eine auskömmliche Rente setzt eine andere Lohnpolitik voraus.

Richtig, wir haben derzeit einen Mindestlohn in Deutschland, der es nicht einmal ermöglicht, eine Rente oberhalb der Grundsicherung zu erwirtschaften. Deshalb ist unsere Forderung nach 14 Euro Mindestlohn nicht willkürlich, sondern orientiert sich an dieser Prämisse. Kritiker sagen: Niemand arbeitet sein Leben lang zum Mindestlohn. Ich meine jedoch, der Mindestlohn muss so hoch sein, damit man nicht auf Sozialleistungen angewiesen ist – das gilt für Aufstocker ebenso wie für die späteren Rentner.

Bei der Kindergrundsicherung herrscht Stillstand, andere Projekte wie die Rente mit 63 stehen unter Verdacht. Sind Sie – auch als SPD-Mitglied – enttäuscht? Sie haben bei Ihrem Amtsantritt von einem gut funktionierenden Sozialstaat gesprochen – sehen Sie das immer noch so?

Als Präsidentin eines Sozialverbands bin ich parteipolitisch unabhängig. Aber natürlich wünschte ich mir, die Parteien würden Sozialpolitik als dringendes Kernanliegen wichtig nehmen und stärker auf Verteilungsgerechtigkeit achten. Umverteilung ist für viele ein Begriff, bei dem sie sofort die Schotten dicht machen. Verteilungsgerechtigkeit ist wichtig, gerade weil die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht und wir in einer Mehrklassengesellschaft leben. Dennoch würde ich sagen, dass wir in einem funktionierenden Sozialstaat leben, was nicht heißt, dass man ihn nicht besser machen könnte. Aber ich gehöre nicht zu denjenigen, die ihn schlechtreden.

Sie hatten als Behindertenbeauftragte der Bundesregierung im Bereich von Teilhabe und Integration einmal unmittelbar politischen Einfluss. Fehlt Ihnen das jetzt nicht als Chefin eines Lobbyverbandes?

Das vermisse ich gar nicht, denn ich habe das Gefühl, dass hinter uns viele Menschen stehen und wir mit unseren Forderungen Gehör finden und als Nichtregierungsorganisation Politik mitgestalten können. Als Behindertenbeauftragte war mein Einfluss ebenfalls begrenzt, ich konnte Stellungnahmen schreiben, aber keine Gesetze in Gang bringen oder stoppen. Mein Gestaltungspielraum ist nicht kleiner geworden.

Erfolgreiche Sportlerin, Politikerin, Funktionärin: Sie werden immer wieder als Ausnahmeerscheinung beschrieben und als Vorbild. Wären Sie 30 Jahre früher geboren, glauben Sie, Ihr Weg wäre ähnlich verlaufen?

Oh, das ist sehr spekulativ. Ich weiß nicht, ob ich die Möglichkeiten gehabt hätte. Ich habe viel positive Unterstützung bekommen von meinen Eltern, die mich sehr viele Dinge haben versuchen lassen. Ich konnte ein Instrument lernen und Sportarten ausprobieren. Ich habe zwar noch eine Schule für Blinde besucht, aber ich bin froh, in eine lange Friedenszeit hineingeboren zu sein, zumindest in Deutschland. Dies und eine starke Demokratie waren die Voraussetzungen für meine Entfaltung. Das ist für mich ein politischer Auftrag.

Für andere Betroffene könnte Ihr Vorbild auch einschüchternd wirken im Sinne von „Einen solchen Weg schaffe ich nie“ …

Na ja, ich stehe nicht morgens auf und denke: Hallo, du Vorbild, sondern ich denke daran, was ansteht und ob ich das alles hinkriege und gut mache. Vor jedem Interview gebe ich mir Mühe, meine Sachen präsent zu haben, und arbeite viel dafür, so wie ich früher für den Sport trainiert habe. Das sieht von außen oft leicht aus, ist es aber nicht. Aber wenn ich andere Menschen inspirieren kann, ist das schön für mich. Und ich sehe umgekehrt, wie toll andere Menschen ihren Job machen.

Sie haben auch Rückschläge hinnehmen müssen, ihr Begleitläufer hat Sie 2006 in eine falsche Richtung dirigiert, was einen Sturz in den Abgrund verursachte, von dem Sie schwere Verletzungen davontrugen. Haben Sie damals Ihr Vertrauen verloren?

In dem Moment ja. Und auch danach für den Sport. Das Gefühl für Geschwindigkeiten und manchmal auch im Alltag. Das galt nicht für andere Menschen, aber für mich selbst. Ich habe mich weit zurückgeworfen gefühlt, lag auf der Couch, konnte mich nicht bewegen. Es hat viel Mühe gekostet, wieder zu trainieren und Vertrauen zurückzugewinnen.

Können Sie sich vorstellen, dass Menschen angesichts der sozialpolitischen Realität in diesem Land das Vertrauen in die Politik und den Sozialstaat verlieren?

Das kann ich mir sogar gut vorstellen. Ich wünsche mir, dass Menschen sich dann an Institutionen wie Sozialverbände, Gewerkschaften oder Parteien wenden und sich über ihre Rechte informieren. Es ist ja nicht so, dass die einen alle Rechte haben und die anderen keine. Jeder Mensch in Deutschland hat grundsätzlich ein Recht auf Existenzsicherung, auf Bildung und Unterstützung. Es wäre schön, wenn das mehr gesehen würde, statt bei Populisten und rechten Parteien ein Ventil zu suchen.

Verena Bentele, geboren 1982, gewann mit 16 erstmals und allein 2010, ein Jahr nach einem schweren Unfall infolge eines Fehlers ihres Begleitläufers, fünf weitere Male Gold im Biathlon bei den Paralympics. Sie studierte Literatur, Pädagogik und Sprachwissenschaft und ist seit 2018 VdK-Präsidentin.

QOSHE - Interview | VdK-Präsidentin Verena Bentele: „Der soziale Frieden ist gefährdet“ - Ulrike Baureithel
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Interview | VdK-Präsidentin Verena Bentele: „Der soziale Frieden ist gefährdet“

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05.02.2024

Zwölf Goldmedaillen bei den Paralympics, viermal Weltmeisterin. Sie kann Ski laufen, schießen und besteigt hohe Berge in Afrika. Aber Verena Bentele, Präsidentin des VdK, des größten Sozialverbands in Deutschland, und ehemalige Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, kann noch viel mehr. Nämlich Politik machen.

Geboren 1982 in Lindau am Bodensee, auf einem Bio-Bauernhof aufgewachsen, ist sie aufgrund einer genetischen Veranlagung blind, wie einer ihrer Brüder. Laufen und Reden also – die einflussreiche Sozial-Lobbyistin redet tatsächlich so schnell, dass unser Transkriptionssystem manchmal aufgegeben hat.

der Freitag: Frau Bentele, Sie haben einmal gesagt: „Ich rede schnell, ich arbeite schnell und ich gehe schnell“, obwohl das manchmal zu Kollisionen führe. Womit sind Sie real oder mit wem politisch zuletzt kollidiert?

Verena Bentele: Physisch kollidiert bin ich zuletzt mit einem Baustellenschild. Heute Morgen ist mein Stock daran vorbeigegangen, und ich bin hängen geblieben. Das Schild steht noch, ich auch, alles gut. Politisch kollidiere ich ganz heftig mit den rechten Bestrebungen und der AfD, die sich gegen Minderheiten, Geflüchtete oder Menschen, die anders sind, äußert. Das sehe ich als große Gefahr.

Seitdem Sie Präsidentin des VdK sind, haben Sie diesen etwas behäbigen Verband ganz schön auf Trab gebracht, gemäß Ihrer Ankündigung, seine Bekanntheit ausbauen zu wollen. Sie scheinen als ehemalige Profisportlerin die richtigen Voraussetzungen mitzubringen ...

Schön, dass Sie diesen positiven Eindruck haben, wir tun auch viel dafür. Kommunikation ist uns ein wichtiges Anliegen. Und es stimmt schon, ich habe sehr viel Power durch meinen Sport, aber auch viel Verständnis dafür, was ein Team bedeutet, in dem alle zusammenarbeiten und sich gegenseitig unterstützen. Auch das ist wichtig in einem Sozialverband. Und ich kann meine Kräfte gut einteilen. Mir geht sehr selten die Luft aus.

Der VdK war ursprünglich eine Selbsthilfeorganisation der Kriegsopfer und ihrer Hinterbliebenen. Inzwischen hat er sich mit 2,2 Millionen Mitgliedern zum größten Sozialverband entwickelt. Wie ist diese Erfolgsgeschichte zu erklären?

Eine Erklärung ist, dass die Menschen in einem komplizierten Sozialstaat Hilfe brauchen für die Leistungen, die ihnen zustehen. Die Sozialversicherungsträger sind mit Ablehnungen schnell bei der Hand. Wir legen für unsere Mitglieder dann Widerspruch ein, vertreten sie vor den Sozialgerichten, wenn es nötig ist, und sind dabei auch sehr erfolgreich. Zum anderen tragen wir sehr eindeutig formulierte Forderungen in die Öffentlichkeit und in die Politik, die von vielen Menschen unterstützt werden. Dazu haben wir ein starkes Ehrenamt vor Ort.

Die derzeitige Situation scheint die Sozialverbände zu einer neuen Gangart zu zwingen. Jüngst haben Sie........

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