Er könne nicht voraussagen, wann die nächste Idee die Massen erfasse. Oft fehle nicht viel, schon schalte alles vom Ruhe- in den Sturmmodus. Nein, nicht Karl Marx, sondern dem kampferprobten Gewerkschaftschef Franz Steinkühler wird diese Einsicht zugeschrieben. Sie bezog sich auf den wichtigsten Streik in der Metallindustrie, den Kampf um die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich im Jahre 1984. Die Reduzierung der Arbeitszeit war damals eine revolutionäre Idee, weil sie den Schichtbetrieb durcheinanderwirbelte. Sie in der Branche durchzusetzen, brauchte weitere sechs Jahre.

Fast 40 Jahre später befinden sich nicht nur die Bauern, sondern auch die Lokführer im Sturmmodus. Die einen, weil sie um Vergünstigungen fürchten, die ihre Existenz sichern; die anderen, weil sie ihre Arbeitsbedingungen nachhaltig verbessern wollen. Revolutionär ist die zentrale Forderung der Gewerkschaft der Lokführer (GDL) nach der 35-Stunden-Woche heutzutage wahrlich nicht mehr und die Empörung des Bahn-Konzerns darüber ist wenig überzeugend.

Eine erste Schlappe hat das Unternehmen am Dienstag bereits hinnehmen müssen, als das Arbeitsgericht Frankfurt den Antrag, den Streik für unrechtmäßig zu erklären, zurückwies. Seit Mittwoch leben Bahnkunden einmal mehr mit der Unsicherheit, ob und wie sie von A nach B kommen. Aber gerade im Hinblick auf die große Transformation zu einer klimagerechten Gesellschaft brauchen wir eine verlässliche Bürgerbahn, twitterte stellvertretend für viele Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linkspartei). Und das bedeutet auch: zufriedenes Bahnpersonal.

Unter dem Eindruck der entschlossenen GDL, auch unbegrenzt in den Ausstand zu gehen, hat die Bahn nach wochenlangem Mauern am Wochenende angeboten, über eine „intelligente Arbeitszeitgestaltung“ zu verhandeln. Beschäftigte sollen wählen können, ob sie 35, 38 oder 40 Stunden arbeiten, „wie in einer Cafeteria“, so der Bahn-Personalvorstand Martin Seiler. Es spricht viel aus diesem Vergleich, denn was ich in der Cafeteria wähle, hängt auch von meinem Geldbeutel ab. Und eine Zugbegleiterin, die ohnehin knapp über die Runden kommt, wird sich überlegen, ob sie 13 Prozent weniger Lohn verkraftet, wenn sie von 40 auf 35 Stunden geht. Der Knackpunkt dieses Vorschlags ist nämlich: Es gibt keinen Lohnausgleich. Und dafür streiken die Beschäftigten ganz sicher nicht.

Ein Grund für die erbitterte Auseinandersetzung liegt aber nicht nur in der Forderung nach der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich, sondern in dem Umstand, dass die GDL mit besseren Tarifbedingungen ihrer Leiharbeitergenossenschaft Fair Train der Bahn derzeit das ohnehin rare Lok-Personal abwirbt. Die GDL, argumentiert die Bahn, agiere als Gewerkschaft und als Arbeitgeberin und verlöre damit ihre Tarifhoheit. Die unerschrockene GDL auf diese Weise loszuwerden, ist die Hoffnung des Konzerns. Doch der Streit ist juristisch noch anhängig, Ausgang offen.

Die GDL hat mittlerweile mit den kleineren Bahnunternehmen Netinera und Go-Ahead, die Regionalbahnen unterhalten, Abschlüsse getätigt, im Rahmen derer die Wochenarbeitszeit von 38 auf 35 Stunden bei vollem Lohnausgleich reduziert wird. Mit etwas gutem Willen scheint das zu gehen. Der Bahn-Konzern täte gut daran, die Zeichen der Zeit zu erkennen und mit weitgehendem Entgegenkommen uns allen weitere Streiks und Bahnchaos zu ersparen. Es könnte sonst sein, dass noch ganz andere Ideen „die Massen“ erfassen.

QOSHE - Meinung | GDL-Streik: Die Bahn muss einlenken - Ulrike Baureithel
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Meinung | GDL-Streik: Die Bahn muss einlenken

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10.01.2024

Er könne nicht voraussagen, wann die nächste Idee die Massen erfasse. Oft fehle nicht viel, schon schalte alles vom Ruhe- in den Sturmmodus. Nein, nicht Karl Marx, sondern dem kampferprobten Gewerkschaftschef Franz Steinkühler wird diese Einsicht zugeschrieben. Sie bezog sich auf den wichtigsten Streik in der Metallindustrie, den Kampf um die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich im Jahre 1984. Die Reduzierung der Arbeitszeit war damals eine revolutionäre Idee, weil sie den Schichtbetrieb durcheinanderwirbelte. Sie in der Branche durchzusetzen, brauchte weitere sechs Jahre.

Fast 40 Jahre später befinden sich nicht nur die Bauern, sondern auch die Lokführer im Sturmmodus. Die einen, weil sie um Vergünstigungen fürchten, die ihre Existenz sichern; die anderen, weil sie ihre Arbeitsbedingungen nachhaltig verbessern wollen. Revolutionär ist........

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