Wieder einmal ein Pisa-Schock. Im alle drei Jahre durchgeführten Test der OECD schneiden deutsche Schüler:innen so schlecht ab wie nie, selbst an Gymnasien. Knapp ein Drittel der 15-Jährigen kann nicht vernünftig lesen oder erkennen, ob ein Sonderangebot lukrativ ist. Alleine schon diese Frage, die die kompetitive Marktwirtschaft offenbar in den Mittelpunkt des Schulalltags rückt, ist sprechend. Sollen hier künftige Bürgergeld-Bezieher:innen ertüchtigt werden, sich durchs Leben zu schlagen?

Doch von der oft kritisierten Methode und vom Inhalt der Pisa-Erhebung einmal abgesehen: Ganz unerwartet kommt der Leistungsabfall der Neuntklässler nicht. Bildungsforschende warnen schon seit längerem, dass sich die Auswirkungen der Schulschließungen während der Pandemie, die immer heterogener zusammengesetzten Klassen und nicht zuletzt der eklatante Lehrermangel, der große Klassen nach sich zieht, niederschlagen werden. Wer in Physik nicht unterrichtet wird, weil der frustrierte Physiklehrer lieber in die freie Wirtschaft abwandert, wird den Klimawandel vielleicht fühlen, ihn aber nicht erklären können.

Und es beginnt ja schon früher, bei der Sprachförderung in den Kitas. Die drohen nun sogar, ihre Öffnungszeiten zu verkürzen aufgrund fehlenden Personals. Wundert sich da irgendjemand darüber, dass mathematische Kontextbezüge, wie es so schön heißt, nicht verstanden werden? Dass Schüler:innen, die dem Unterricht nicht folgen können, erst gar nicht mehr erscheinen, sich zurückziehen oder ein auffälliges Sozialverhalten an den Tag legen?

Und das ist nicht nur an den Schulen, sondern auch an den Universitäten zu beobachten. Ein neuer Bericht des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung offenbart, dass drei Viertel aller befragten Studierenden Probleme mit dem Leistungspensum haben und 16 Prozent sich gesundheitlich beeinträchtigt fühlen. Insbesondere die psychischen Störungen nehmen zu. Offenbar verlängert sich das in den Schulen angelegte Debakel bis in die Phase des Studiums.

Dazu kommt noch ein weiteres: Viel vom abgerufenen Schülerwissen ist heutzutage schon längst substituierbar, bis hin zur künstlichen Intelligenz. Wofür lerne ich diesen Mist, hat sich schon jede beschulte Generation gefragt, aber so grundlegend wie in diesem Jahrzehnt dürfte die Frage noch nie gewesen sein. Und noch nie so groß die Diskrepanz zwischen individuell verfügtem Schüler- und kollektiv verfügbarem Plattformwissen. Es geht in der Schule auch darum, Schüler:innen zu befähigen zur Unterscheidung, zu lernen, sich im Dickicht zwischen Wissen und Fake zu orientieren. Aber bevor sie das überhaupt gelernt haben, sind viele selbst schon ausgeschieden worden von einem Schulsystem, das auf die Reproduktion von Besitz- und Bildungseliten ausgerichtet ist und noch jeder Reform getrotzt hat.

Zwischen dem kleinen Estland und Deutschland gibt es viele Unterschiede, und so ist der Vergleich zwischen der gerne zitierten Vorzeigenation und einem Einwanderungsland wider Willen, das in kurzer Zeit gerade wieder eine Million Kriegsflüchtlinge zu integrieren hatte, nicht ganz gerechtfertigt. Lernen kann man dort aber von einem auf Integration orientierten Bildungssystem und einer sehr viel aufgeschlosseneren Schulbürokratie, die nicht wie in Deutschland noch im Sinne duodezfürstlichen Bildungskampfes agiert. Das Heil wird jedenfalls nicht, wie einige Eukliden des mathematischen Nachhilfewesens gerade glauben machen wollen, in einem digital aufgerüsteten Unterricht liegen, der die präsente Betreuung nie ersetzt. Das sollte man aus der Corona-Zeit eigentlich gelernt haben.

Es wäre ja schon ein Anfang, wenn den Kids halbwegs benutzbare Toiletten zur Verfügung stünden, sie im Sommer nicht auf dem Rost brieten und ihre meist engagierten Lehrer:innen nicht alles schultern müssten, was an Problemen in die Schule getragen wird. Es gibt gut ausgearbeitete und auch praktizierte Entlastungskonzepte. Die kosten Geld, aber auch den Willen, den Schulen freiere Hand zu lassen. Vor allem jedoch müsste man es ernst nehmen mit der Inklusion. Wer kann sich hier willkommen fühlen und Spaß am Lernen entwickeln, wenn in der Mehrheitsgesellschaft nur noch von einem „Ballast“ die Rede ist, den man möglichst loswerden will?

Wir brauchen einen anderen Blick auf die Schulen als ganzheitliches System und auf die Menschen dort, die mehr sind als nur Lehrmaschinen oder künftige Fachkräfte, die den Wohlstand des Landes erhalten sollen.

QOSHE - Meinung | Pisa-Schock: Wir brauchen einen anderen Blick auf die Schulen - Ulrike Baureithel
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Meinung | Pisa-Schock: Wir brauchen einen anderen Blick auf die Schulen

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07.12.2023

Wieder einmal ein Pisa-Schock. Im alle drei Jahre durchgeführten Test der OECD schneiden deutsche Schüler:innen so schlecht ab wie nie, selbst an Gymnasien. Knapp ein Drittel der 15-Jährigen kann nicht vernünftig lesen oder erkennen, ob ein Sonderangebot lukrativ ist. Alleine schon diese Frage, die die kompetitive Marktwirtschaft offenbar in den Mittelpunkt des Schulalltags rückt, ist sprechend. Sollen hier künftige Bürgergeld-Bezieher:innen ertüchtigt werden, sich durchs Leben zu schlagen?

Doch von der oft kritisierten Methode und vom Inhalt der Pisa-Erhebung einmal abgesehen: Ganz unerwartet kommt der Leistungsabfall der Neuntklässler nicht. Bildungsforschende warnen schon seit längerem, dass sich die Auswirkungen der Schulschließungen während der Pandemie, die immer heterogener zusammengesetzten Klassen und nicht zuletzt der eklatante Lehrermangel, der große Klassen nach sich zieht, niederschlagen werden. Wer in Physik nicht unterrichtet wird, weil der frustrierte Physiklehrer lieber in die freie Wirtschaft abwandert, wird den Klimawandel vielleicht fühlen, ihn aber nicht erklären........

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