Als die Schlächter der Terrororganisation Hamas Anfang Oktober ein Pogrom an friedlichen Zivilisten anrichteten, blieb ein bestimmtes Milieu erstaunlich ruhig. Jenes nämlich, das in anderen Zusammenhängen schon die Wahl des falschen Pronomens als Gewalt versteht. Oder in der Frage nach der Herkunft eines Menschen üblen Rassismus wittert. Das ist kein Zufall.

Man braucht sich nur Judith Butlers jüngstes Interview zur Thematik anzusehen. Mit erschütternder Ignoranz angesichts des Bösen erläuterte die feministische Ikone einer Journalistin von «Democracy Now», dass Israel nicht Opfer, sondern Täter sei. «Genozid muss nicht immer so aussehen wie das Naziregime», sagt sie wörtlich, um dann Israel des Genozids an den Palästinensern zu bezichtigen. Wer Hamas als Terroristen anstatt als Widerstandskämpfer bezeichne und ihre Taten als barbarisch, der mache sich des Genozids mitschuldig.

Es ist nicht das erste Mal, dass Butler sich für Terrororganisationen starkmacht. Schon früher bezeichnete sie Hamas und Hizbollah als soziale Bewegungen, die sie als Teil der globalen progressiven Linken versteht. Und den Terror «kontextualisiert». Nur dass sie sich bei früheren Gelegenheiten wieder davon zu distanzieren versuchte. Darauf verzichtet sie mittlerweile und erinnert damit an eine andere Intellektuelle.

In den Siebzigerjahren war es die kommunistische Kolumnistin Ulrike Meinhof, die dem studentischen Milieu die argumentativen Figuren lieferte, um den RAF-Terror als legitime Gegengewalt zu zeichnen. Heute liefert Butler das Argumentarium für einen neuen Antisemitismus, in dessen Namen abscheulichste Verbrechen nicht nur legitimiert, sondern auch verteidigt werden.

Butlers Denkfiguren finden sich auch bei anderen von ihr inspirierten Theoretikern. Der italienische Historiker Enzo Traverso etwa schreibt, dass Rassismus gegen Juden deshalb nicht möglich sei, weil diese «ins Herz der Mechanismen der Dominanz» vorgedrungen, also weiss geworden seien. Derweil werden die Muslime kurzerhand als die «neuen Juden» interpretiert, bedroht von einem weitverbreiteten «Islamhass». Da Israel zudem als westlich imperialistischer Brückenkopf im Nahen Osten gesehen wird, gilt Gewalt gegen Juden immer als Reaktion auf diesen politischen Zustand.

Immer wieder sieht man die verächtliche Geste des simulierten Weinens: «Dein Kind wurde von Terroristen getötet? Heul doch!»

Diese Vorstellung grassiert unter den sogenannt Progressiven schon seit Jahren. Nicht nur Greta Thunberg und ihre Fridays-for-Future-Bewegung bezichtigen Israel der Apartheid und des Genozids, auch Vertreter studentischer Milieus denken so. Laut einer Harvard-Umfrage glaubt fast ein Viertel der 18- bis 24-jährigen Amerikaner, dass das Pogrom vom 7. Oktober durch das Leiden der Palästinenser gerechtfertigt war.

Ähnlich entsetzlich sind jene Reaktionen junger Studentinnen an europäischen und amerikanischen Unis. In den vergangenen Wochen kursierten zahlreiche Videos, die aufgebrachte Studentinnen zeigten, wie sie Steckbriefe von in den Gazastreifen entführten Zivilisten, darunter viele Frauen und Kinder, von den Wänden reissen. Schäumend vor Wut referieren sie in die Kameras, das sei nichts anderes als Propaganda des israelischen Staats.

Immer wieder sieht man auch die verächtliche Geste des simulierten Weinens: «Dein Kind wurde von Terroristen getötet? Heul doch!» Der moralische Relativismus dieser Menschen lässt einem das Blut in den Adern gefrieren. Schlimmer ist nur noch die so demonstrierte Naivität dieser Klientel, die von der Hamas nicht anders behandelt würde als die vermissten Kinder.

Verschiedene Kulturen haben verschiedene moralische Vorstellungen, das gehört zu den Grundgedanken postmoderner Theorien und ist unbestritten. Ebenso unbestritten ist aber, dass ein Set universeller moralischer Regeln, unabhängig von Kulturen und Zeitaltern, existiert.

Es besagt, dass Kinder abzuschlachten, böse ist. Ebenso böse ist es, diese Taten in die Welt hinaus zu streamen, wie es die Hamas getan hat. Oder solche Taten zu rechtfertigen. Wer den Horror vom 7. Oktober nicht verurteilen kann, ohne zu «kontextualisieren», hat jeglichen moralischen Kompass verloren.

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QOSHE - Judith Butlers moralischer Bankrott - Michèle Binswanger
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Judith Butlers moralischer Bankrott

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01.11.2023

Als die Schlächter der Terrororganisation Hamas Anfang Oktober ein Pogrom an friedlichen Zivilisten anrichteten, blieb ein bestimmtes Milieu erstaunlich ruhig. Jenes nämlich, das in anderen Zusammenhängen schon die Wahl des falschen Pronomens als Gewalt versteht. Oder in der Frage nach der Herkunft eines Menschen üblen Rassismus wittert. Das ist kein Zufall.

Man braucht sich nur Judith Butlers jüngstes Interview zur Thematik anzusehen. Mit erschütternder Ignoranz angesichts des Bösen erläuterte die feministische Ikone einer Journalistin von «Democracy Now», dass Israel nicht Opfer, sondern Täter sei. «Genozid muss nicht immer so aussehen wie das Naziregime», sagt sie wörtlich, um dann Israel des Genozids an den Palästinensern zu bezichtigen. Wer Hamas als Terroristen anstatt als Widerstandskämpfer bezeichne und ihre Taten als barbarisch, der mache sich des Genozids mitschuldig.

Es ist nicht das erste Mal, dass Butler sich für Terrororganisationen starkmacht. Schon früher bezeichnete sie Hamas und Hizbollah als soziale Bewegungen, die sie als........

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