Ihre Kolumne begann ursprünglich mit vielen banal erscheinenden Alltagsfragen. Inzwischen sind die Alltäglichkeiten darin eher verschwunden. Erreichen Sie überhaupt noch diese kleinen Fragen des Alltags wie etwa rasende Rechtsüberholende mit lautlosen E-Bikes? Oder schämt man sich heute für so kleinliche Fragen angesichts grosser ethischer, sozialer, politischer Themen? S.F.

Lieber Herr F.

Meine erste Kolumne behandelte die Frage, ob man auf dem Friedhof joggen dürfe. Wenn ich mich recht erinnere, hatte ich damals geantwortet, dass man das zwar tun könne, sich damit aber dem Vorwurf aussetze, hinsichtlich kultureller Symbole ein Analphabet zu sein. Wenn man einen Friedhof als eine Sportstätte betrachte, dann sei das in etwa das Gleiche, wie wenn man von Schriftzeichen und Texten behaupte, letztlich bestünden diese auch nur aus Farbe auf Papier.

Mit dieser Antwort hatte ich versucht, eine keineswegs banale Dimension in einer lediglich banal erscheinenden Frage sichtbar zu machen, deren Implikationen weit über das Thema des bestgeeigneten Orts für Fitnessübungen hinausgehen. Dieser Frage-Antwort-Dialog sollte das Modell für meine Kolumne sein. Das hatte einen besonderen Reiz (jedenfalls für mich, aber ich hoffe auch für die Leserinnen und Leser), wenngleich es natürlich nicht immer gleich gut funktionieren konnte. Manchmal ist das Banale ja tatsächlich banal, und man sollte sich dann davor hüten, in solche Banalitäten einen verborgenen Tiefsinn hineinzugeheimnissen.

Vielleicht sind die «kleinen» Fragen inzwischen tatsächlich weniger und die «grossen» mehr geworden; vielleicht hat aber auch nur meine Lust abgenommen, auf jedweder thematischen Glatze ein launisches Löckchen zu drehen, um es mal in einem gewagten Bild auszudrücken. Vielleicht hängen meine Unlust an kleinen alltäglichen Kunststückchen und meine wachsende Neigung zu «grösseren» (damit nicht weniger alltäglichen) Fragen auch mit der Diskussions(un)kultur zusammen, wie sie heute in gewissen Onlinekommentaren sichtbar wird. Was einem dort begegnet, könnte man schlimmstenfalls als leseunwillige, ressentimentgeladene und antiintellektuelle Rechthaberei, bestenfalls als den Hang beschreiben, auch noch mal seinen Senf dazutun zu wollen, selbst wenn der Zusammenhang mit dem Thema eher lose ist.

Wenn jede unmassgebliche Meinerei zu allem und jedem mit grossem Ernst debattiert wird und jedwede Relevanz im Gewusel läppischer Probleme unterzugehen droht, dann ist es vielleicht geboten, sich unmittelbarer – und nicht nur auf dem Umweg über kleine Alltagsprobleme – «grosser» Fragen anzunehmen und etwas öfter Tacheles zu reden. Noch Fragen? Bitte. Gerne.

Der Psychoanalytiker Peter Schneider beantwortet Fragen zur Philosophie des Alltagslebens. Senden Sie uns Ihre Fragen an gesellschaft@tamedia.ch.

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QOSHE - Schämen wir uns für kleine Anliegen? - Peter Schneider
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Schämen wir uns für kleine Anliegen?

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20.03.2024

Ihre Kolumne begann ursprünglich mit vielen banal erscheinenden Alltagsfragen. Inzwischen sind die Alltäglichkeiten darin eher verschwunden. Erreichen Sie überhaupt noch diese kleinen Fragen des Alltags wie etwa rasende Rechtsüberholende mit lautlosen E-Bikes? Oder schämt man sich heute für so kleinliche Fragen angesichts grosser ethischer, sozialer, politischer Themen? S.F.

Lieber Herr F.

Meine erste Kolumne behandelte die Frage, ob man auf dem Friedhof joggen dürfe. Wenn ich mich recht erinnere, hatte ich damals geantwortet, dass man das zwar tun könne, sich damit aber dem Vorwurf aussetze, hinsichtlich kultureller Symbole ein Analphabet zu sein. Wenn man einen Friedhof als eine Sportstätte........

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