Sie ist die Seuche unserer digitalen Gesellschaft: die Meinungsdiarrhoe. Jeder hat zu allem eine Meinung – entwickelt in Sekundenschnelle, zum Beispiel beim Lesen eines Titels oder bei der Betrachtung eines Bildes. Die sogenannten sozialen Medien sind zu asozialen Diffamierungsplattformen geworden. Es grassieren Undifferenziertheit und Empörung, nicht selten bewusst provoziert von klickbesessenen Medienplattformen oder Stimmungsmachern mit einer politischen Agenda.

Welche Dynamik solche entgleisten Debatten annehmen können, zeigt auf tragische Weise der Fall der im ganzen deutschsprachigen Raum bekannten Journalistin Alexandra Föderl-Schmid. Sie ist stellvertretende Chefredaktorin der «Süddeutschen Zeitung» (SZ), die in der internationalen Berichterstattung mit dem «Tages-Anzeiger» kooperiert, und ist auch regelmässig bei uns zu lesen und zu hören. Föderl-Schmid hat nach öffentlichen Plagiatsvorwürfen offensichtlich versucht, sich das Leben zu nehmen. Glücklicherweise wurde sie nach ihrer Vermisstmeldung am vergangenen Freitag lebend gefunden. Die Erleichterung ist auch auf unserer Redaktion gross.

Viele Fragen rund um die dramatischen Ereignisse sind noch offen. Unklar ist zum Beispiel, wie gross das Ausmass möglicherweise abgeschriebener Textstellen ist. Oder ob das Krisenmanagement und die Kommunikation der Arbeitgeberin SZ adäquat waren. Klar ist: Im Dezember hat das deutsche Branchenmagazin «Medieninsider» Plagiatsvorwürfe gegenüber Föderl-Schmids Berichterstattung erhoben. In mindestens drei Fällen habe sie im Kontext des Nahost-Konflikts Erläuterungen öffentlicher Institutionen im Wortlaut übernommen.

Die Journalistin räumte Fehler ein. Es ist möglich, dass ihr in der mittlerweile von der SZ angestossenen Untersuchung weitere Plagiate nachgewiesen werden können. Selbst wenn die Verfehlungen ein grösseres Ausmass haben sollten: Das rechtfertigt nicht die digitale Hetze, der Föderl-Schmid zuletzt ausgesetzt war.

Ihren Höhepunkt erreichte diese, als vergangene Woche das deutsche Portal «Nius» des ehemaligen «Bild»-Chefredaktors Julian Reichelt mehrere Artikel publizierte, die auch Föderl-Schmids Dissertation aus dem Jahre 1996 einem Plagiatsverdacht aussetzen. Mit der Recherche beauftragt hatte «Nius» den bekannten «Plagiatsjäger» Stefan Weber.

Dazu muss man wissen: Weber fertigt gegen Geld Gutachten zu akademischen Arbeiten an. Das Geschäftsmodell dürfte einträglich sein; Webers Analysen bringen regelmässig prominente Personen in Schwierigkeiten. Häufig erfolgen seine Anschuldigungen allerdings zu Unrecht. Er wirkt damit als Brandbeschleuniger einer in Deutschland virulenten Debatte, in der seit dem Ex-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg 2011 zahlreiche Politikerinnen und Politiker des Plagiats beschuldigt wurden.

Auch unsere Redaktion erhielt am Tag nach den eidgenössischen Wahlen 2023 anonyme Post mit einem Gutachten zur Dissertation einer gewählten Nationalrätin. Der Verfasser des Gutachtens: Stefan Weber. Nach sorgfältiger Prüfung entschieden wir uns gegen eine Berichterstattung. Sogar die angeblich plagiierten Experten fanden die Vorwürfe ungerechtfertigt.

Damit wird deutlich: In dieser Debatte – und bei solchen Gutachten – geht es längst nicht mehr um intellektuelle Redlichkeit oder universitäre Standards. Es geht um politische Motive, Rachefeldzüge, Rufmord.

Dass davon nicht nur Politiker, sondern auch Journalistinnen betroffen sein können, überrascht nicht: Die Medien agieren als Übermittler politischer Konflikte. Die Journalistinnen und Journalisten haben eine gewisse Deutungsmacht im öffentlichen Diskurs. Diese Exponiertheit macht sie zu Zielscheiben in den asozial gewordenen Medien wie X oder Facebook. Vielen scheint es in der Anonymität des Netzes eine perverse Lust zu bereiten, Menschen (zumal die da oben!) straucheln zu sehen.

Bezeichnend dafür sind die Reaktionen auf die Analyse der österreichischen Journalistin Barbara Tóth. Sie hat sämtliche der in Föderl-Schmids Dissertation beanstandeten Textstellen nach wissenschaftlichen Kriterien untersucht und kommt zum Schluss, dass es «einige wenige ärgerliche Ungenauigkeiten» gebe, es sich ansonsten aber um eine «eigenständige und verdienstvolle Arbeit» handle. Eine offizielle Prüfung der Universität Salzburg, um die Föderl-Schmid selber gebeten hatte, steht noch aus.

Tóths Analyse zeigt aber bereits, dass der Fall nicht so eindeutig ist, wie ihn «Nius» darstellte. Trotzdem wurde ihre Recherche auf Social Media mit Hasskommentaren quittiert: mit Befürwortungen des Suizidversuchs und geschmacklosen persönlichen Angriffen. Die Reaktionen offenbaren einen derartigen Mangel an Menschlichkeit, dass einem bange wird. Auch der bekannte ORF-Journalist Armin Wolf zeigte sich erschüttert über die hohe Zahl «moralisch und charakterlich Verwahrloster», die auf seine Artikel-Postings zu Föderl-Schmid reagierten.

Die Meinungen sind gemacht, davon wird nicht abgewichen. Die Undifferenziertheit und die Empörung im Fall Föderl-Schmid: Sie liefern unfreiwilligen Anschauungsunterricht für die degenerative Entwicklung digitaler Debatten. Und sie verdeutlichen, dass es im Moment schwierig bis unmöglich ist, Diskussionen – wie hier zu wissenschaftlichen oder journalistischen Standards – nüchtern zu führen. Nicht einmal dann, wenn ein Diskurs fast tödliche Folgen hat.

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QOSHE - Hetzjagd auf eine Journalistin - Raphaela Birrer
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Hetzjagd auf eine Journalistin

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12.02.2024

Sie ist die Seuche unserer digitalen Gesellschaft: die Meinungsdiarrhoe. Jeder hat zu allem eine Meinung – entwickelt in Sekundenschnelle, zum Beispiel beim Lesen eines Titels oder bei der Betrachtung eines Bildes. Die sogenannten sozialen Medien sind zu asozialen Diffamierungsplattformen geworden. Es grassieren Undifferenziertheit und Empörung, nicht selten bewusst provoziert von klickbesessenen Medienplattformen oder Stimmungsmachern mit einer politischen Agenda.

Welche Dynamik solche entgleisten Debatten annehmen können, zeigt auf tragische Weise der Fall der im ganzen deutschsprachigen Raum bekannten Journalistin Alexandra Föderl-Schmid. Sie ist stellvertretende Chefredaktorin der «Süddeutschen Zeitung» (SZ), die in der internationalen Berichterstattung mit dem «Tages-Anzeiger» kooperiert, und ist auch regelmässig bei uns zu lesen und zu hören. Föderl-Schmid hat nach öffentlichen Plagiatsvorwürfen offensichtlich versucht, sich das Leben zu nehmen. Glücklicherweise wurde sie nach ihrer Vermisstmeldung am vergangenen Freitag lebend gefunden. Die Erleichterung ist auch auf unserer Redaktion gross.

Viele Fragen rund um die dramatischen Ereignisse sind noch offen. Unklar ist zum Beispiel, wie gross das Ausmass möglicherweise abgeschriebener Textstellen ist. Oder ob das Krisenmanagement und die Kommunikation der Arbeitgeberin SZ........

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