Europas größte Industrienation hat sich viel zu lang auf ihren Erfolgen ausgeruht. Das rächt sich jetzt. Die wirtschaftliche Talfahrt dürfte den Aufstieg der Populisten befördern. Mit Folgen für den ganzen Westen.

München hat für ein paar Tage den Betrieb eingestellt. Der Flughafen war Sperrgebiet. Schulen auch. Begräbnisse wurden abgesagt. Der öffentliche Verkehr brach zusammen. Weil es im Dezember geschneit hat. Manche Beobachter erkennen im Münchner Schnee die Spuren einer größeren Misere. Sie klagen darüber, dass die Deutsche Bahn weniger Geld in den Winterdienst gepumpt hat als die österreichische, dass sie auch über weniger beheizte Weichen verfügt und dass ganz generell die deutsche Infrastruktur veraltet ist und verfällt.

Deutschland scheint auf schwierige Großwetterlagen nicht vorbereitet. Auch politisch nicht. Europas größte Industrienation schwächelt. Sie wird 2023 womöglich schrumpfen. Und sie wird mit Spott und Häme übergossen, weil die Politik das Land just jetzt in eine historische Finanzkrise gestürzt hat. Viele Milliarden Euro an Geldern auch für Energie- und Zeitenwende sind gesperrt, weil die Ampelregierung die strengen deutschen Schuldenregeln mit einem Taschenspielertrick umgehen wollte, den das Verfassungsgericht aber durchschaute.

Das viele Geld ist nötig, weil Deutschland große strukturelle Probleme angehäuft hat. Am Beispiel des Nachbarlands sieht man zugleich, warum sich Politiker oft vor Reformen drücken. Gerhard Schröder (SPD) flößte dem Land einst eine bittere Medizin ein und wurde dafür abgewählt. Merkel rastete sich auf Schröders Reformen aus. Und hielt sich auch deshalb eineinhalb Dekaden im Amt. Sie mutete den Deutschen in den goldenen Wirtschaftsjahren keine schwierigen Reformen zu. Gefühlt döste das ganze Land in der Illusion, die Gegenwart würde ewig dauern.

Andere enteilt. Das Erbe der Ära Merkel lastet schwer auf dem Land. Trotz der soliden Finanzlage, die sie hinterließ. Aber die Infrastruktur bröckelt. Die Bundeswehr ist ein Sanierungsfall. Sie hätte im Kriegsfall, Stand 2022, nur für zwei Tage Munition. Regulierungswut, Fachkräftemangel und hohe Energiekosten plagen die Industrie. In wichtigen Zukunftsbranchen sind andere enteilt. Die Energiewende blieb teures Stückwerk. Die Russland-Politik war ein Fiasko. Wobei nie nur Merkel und fast immer auch die heutige Kanzlerpartei SPD Verantwortung trägt.

Jetzt wird jedenfalls wieder vom „kranken Mann Europas“ geredet. Das Krisengeheul mag übertrieben sein. Und Berichte über die Gefahr einer Deindustrialisierung führen schon deshalb in die Irre, weil diese Deindustrialisierung bereits vor Jahrzehnten begonnen hat. Sie könnte sich aber beschleunigen. Und dieser Abwärtstrend könnte früher oder später auch zu politischen Verwerfungen führen. Schon jetzt sind die Populisten links und rechts der Mitte, die Weidels und Wagenknechts, im Aufwind, unter anderem, weil das Migrationsthema wieder Konjunktur hat.

In den Trump- und Brexit-Jahren war zumindest auf ein politisch stabiles Deutschland Verlass. Sollte sich das eines Tages ändern, wären die Folgen im gesamten Westen zu spüren.

juergen.streihammer@diepresse.com

»Das ganze Land döste unter Merkel in der Illusion, die Gegenwart würde ewig ­dauern.«

QOSHE - Der Westen hat auch ein deutsches Problem - Jürgen Streihammer
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Der Westen hat auch ein deutsches Problem

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09.12.2023

Europas größte Industrienation hat sich viel zu lang auf ihren Erfolgen ausgeruht. Das rächt sich jetzt. Die wirtschaftliche Talfahrt dürfte den Aufstieg der Populisten befördern. Mit Folgen für den ganzen Westen.

München hat für ein paar Tage den Betrieb eingestellt. Der Flughafen war Sperrgebiet. Schulen auch. Begräbnisse wurden abgesagt. Der öffentliche Verkehr brach zusammen. Weil es im Dezember geschneit hat. Manche Beobachter erkennen im Münchner Schnee die Spuren einer größeren Misere. Sie klagen darüber, dass die Deutsche Bahn weniger Geld in den Winterdienst gepumpt hat als die österreichische, dass sie auch über weniger beheizte Weichen verfügt und dass ganz generell die deutsche Infrastruktur veraltet ist und verfällt.

Deutschland scheint auf schwierige Großwetterlagen nicht vorbereitet.........

© Die Presse


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