War das österreichische Fußballnationalteam beim 2:0 gegen Deutschland so stark? Waren die Gäste erschreckend schwach? Oder trifft beides zu? Beim Lieblingsnachbar schielt man inzwischen jedenfalls in mehrerer sportlicher Hinsicht voller Neid nach Österreich.

Von der Niederlage seiner Mannschaft hatte Deutschland-Trainer Julian Nagelsmann vor diesem denkwürdigen Dienstagabend im Wiener Ernst Happel-Stadion natürlich noch nicht gewusst, als er bei der vorangegangenen Pressekonferenz schon indirekt die Schuldfrage klärte. Der Umstand, dass die DFB-Elf nicht wie sonst als klarer Favorit ins Match gegen Österreich ging, liege an der deutlich gesteigerten Qualität des kleinen Nachbarlandes in den letzten Jahren – und nicht daran, dass man selbst schlechter geworden sei.

Kein Zweifel, insbesondere Österreichs neuer Teamchef Ralf Rangnick verhalf Rot-Weiß-Rot zu kaum für möglich gehaltenen Höhenflügen, beim erfolgreichen Jahresabschluss glänzten seine ÖFB-Stars nun in spielerischer, taktischer und kämpferischer Hinsicht. David Alaba und Co. traten als stabile Einheit auf, die schon zuvor bei den Fans entfachte Euphorie wurde noch weiter verstärkt. Von einem Auftritt als Einheit bzw. von begeisterten Fans kann auf deutscher Seite hingegen keine Rede sein. Die offizielle Team-Bezeichnung „Die Mannschaft“, die ohnehin schon 2022 auf den Müll geworfen wurde, ist endgültig als oberflächlicher Marketinggag enttarnt.

Rund sieben Monate vor der Heim-Europameisterschaft herrscht in Deutschland Katerstimmung. Spätestens jetzt ist jedem klar: Nagelsmanns Schutzbehauptung mit der Stärke der Konkurrenz als DER spielentscheidende Faktor kann nur die halbe Wahrheit sein. Nicht umsonst zeigte sich sogar ÖFB-Star Marcel Sabitzer verwundert, wie schwach sich der vierfache Weltmeister in Wien präsentierte.

Generell gibt es in Deutschland Grund zur Sorge. Neben den Fußballmännern, die nur zwei Siege in ihren jüngsten zehn Spielen feiern konnten, müssen auch die Frauen mehr und mehr ungewohnte Rückschläge einstecken. Sie scheiterten etwa bei der WM in diesem Jahr erstmals in der Vorrunde. Eine weitere Sportart, in der Athleten der (ehemaligen?) Sportnation normalerweise brillieren, bei der in letzter Zeit jedoch gar nichts mehr ging: die Leichtathletik. Bei der WM im August gab es erstmals keine einzige Medaille für den Scheinriesen.

Für Österreichs Leichtathleten übrigens auch nicht – doch in einem Land, das nur über rund ein Zehntel der Einwohner Deutschlands verfügt, ist dieser Umstand leichter hinzunehmen. Außerdem ist jetzt Winter. Wodurch hierzulande automatisch die modernen Gladiatoren auf Schnee und Eis in den Fokus rücken. Vor allem, wenn sie – wie Manuel Feller, Marco Schwarz und Michael Matt am vergangenen Wochenende in Gurgl – für einen Dreifachsieg im Slalom sorgen. Ob Deutschlands alpine Skifahrer da nachziehen können? Äußerst unwahrscheinlich. Schwarz-Rot-Gold muss seine Hoffnungen auf die Rennrodler und Bobfahrer setzen.

Deutschlands Radfahrer vermochten in diesem Jahr, insbesondere bei der Tour de France, nicht zu überzeugen. Während der Osttiroler Felix Gall in Frankreich die Königsetappe für sich entscheiden und Gesamt-Achter werden konnte, landete der beste Deutsche auf Rang 21 (Emanuel Buchmann). Nicht erst seit der aktuellen bzw. in der Schlussphase befindlichen Fomel-1-Saison zeigt sich, dass das Land der Autofahrer auch im Motorsport zur absoluten Randerscheinung wird. Sebastian Vettel (2019) ist der bislang letzte deutsche F1-Sieger, Nico Rosberg (2016) der bislang letzte Weltmeister. Mit dem (Wieder-)Aufstieg der Motorsportkönigsklasse in Österreich durch das Comeback des Grand Prix in Spielberg (2014) wurde quasi der Niedergang des Publikumsinteresses im Nachbarland eingeläutet. Das letzte Rennen dort fand 2020 statt, im Fernsehen läuft die Formel 1 inzwischen nur noch hinter Bezahlschranken. Wissen die Bewohner Deutschlands überhaupt vom aktuellen, weltweiten F1-Boom?

Vielleicht freut sich so manch Deutscher jedoch auch, dass er nicht jedes Wochenende die österreichische Hymne – hervorgerufen durch Red-Bull-Siege – hören muss. Es kann ja durchaus nervig genug sein, dass mit Thomas Preining ein Oberösterreicher die DTM für sich entscheiden konnte.

Wo auch immer Österreich im Sport Erfolge verbuchen kann, scheint der kleine dem großen Bruder seinen Platz streitig zu machen. Ausgang ungewiss.

QOSHE - Deutschlands Krise und Österreichs Beitrag - Michael Stadler
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Deutschlands Krise und Österreichs Beitrag

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22.11.2023

War das österreichische Fußballnationalteam beim 2:0 gegen Deutschland so stark? Waren die Gäste erschreckend schwach? Oder trifft beides zu? Beim Lieblingsnachbar schielt man inzwischen jedenfalls in mehrerer sportlicher Hinsicht voller Neid nach Österreich.

Von der Niederlage seiner Mannschaft hatte Deutschland-Trainer Julian Nagelsmann vor diesem denkwürdigen Dienstagabend im Wiener Ernst Happel-Stadion natürlich noch nicht gewusst, als er bei der vorangegangenen Pressekonferenz schon indirekt die Schuldfrage klärte. Der Umstand, dass die DFB-Elf nicht wie sonst als klarer Favorit ins Match gegen Österreich ging, liege an der deutlich gesteigerten Qualität des kleinen Nachbarlandes in den letzten Jahren – und nicht daran, dass man selbst schlechter geworden sei.

Kein Zweifel, insbesondere Österreichs neuer Teamchef Ralf Rangnick verhalf Rot-Weiß-Rot zu kaum für möglich gehaltenen Höhenflügen, beim erfolgreichen Jahresabschluss glänzten seine ÖFB-Stars nun in spielerischer, taktischer und kämpferischer Hinsicht. David Alaba und Co. traten als stabile Einheit auf, die........

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