Die Maßnahmen gegen den Iran und Russland müssen juristisch wasserdicht sein. Dahinter darf sich aber nicht politische Feigheit verbergen.

Der Rat erlässt Beschlüsse, in denen der Standpunkt der Union zu einer bestimmten Frage geografischer oder thematischer Art bestimmt wird. Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass ihre einzelstaatliche Politik mit den Standpunkten der Union in Einklang steht.“ So schlicht fasst Artikel 29 des EU-Vertrags die Grundlage der Sanktionenpolitik der Union ein. Personen, Unternehmen, Organisationen, ganze Staaten werden „restriktiven Maßnahmen“ unterworfen, wenn sie sich etwas zuschulden kommen lassen, das der politischen Linie der EU zuwiderläuft. 1119 Seiten umfasst derzeit die Gesamtliste der mit finanziellen Sanktionen belegten Personen, Unternehmen, Organisationen.

Hat all das etwas bewirkt? Man darf es bezweifeln. Nicht nur der verschärfte russische Vernichtungskrieg gegen das ukrainische Volk straft das Selbstlob europäischer Politiker Lügen. Es gibt kein einziges Land, in dem die Sanktionspolitik der EU signifikant etwas zur Erreichung ihrer geopolitischen Ziele beigetragen hätte.

Sollte man diese Politik deshalb abschaffen? Natürlich nicht. Das Beispiel Russlands illustriert, wie restriktive Maßnahmen es dem Kreml erschweren, seine Kriegsmaschine am Laufen zu halten. Eine Studie der Kyiv School of Economics zeigt beispielsweise, dass der Nationale Wohlfahrtsfonds (da hinein fließen, unter Verwaltung des Finanzministeriums, die Überschüsse aus dem Ölexport) seit dem Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 praktisch seine gesamten harten Fremdwährungsreserven im Umfang von rund 54 Milliarden Dollar verbraucht hat. Die verbliebenen liquiden Mittel sind, neben Goldreserven, chinesische Yuan. Doch seit März akzeptieren mehrere chinesische Banken keine Zahlungen aus Russland mehr, auch nicht in Yuan: aus Furcht davor, ihrerseits von den westlichen, allen voran amerikanischen Sanktionen erfasst zu werden. Das russische Regime sitzt also auf einem Haufen Reserven, von denen es sich immer weniger kaufen kann.

Reparaturbedürftig ist das EU-Sanktionenregime jedoch, sehr sogar. Oft wird seine Schwäche einzig auf das Erfordernis der Einstimmigkeit der 27 reduziert, welches es Mitgliedstaaten mit Sonderwünschen ermöglicht, den Rest der EU zu erpressen. Das stimmt, lässt sich aber ohne Änderung der EU-Verträge nicht beheben.

Wichtiger wäre es, den Missbrauch des Rechtsstaats zu unterbinden. Aktuell zeigt sich das an der Frage, ob die iranischen Revolutionsgarden auf die EU-Liste von Terrororganisationen kommen sollen. Am Montag wird man beim Ratstreffen der Außenminister erneut hören, dass alles juristisch wasserdicht sein müsse, ehe man diese Sanktion ausspreche. Gewiss: Die Union fußt auf der Rechtsstaatlichkeit, was jedem, der von ihren Maßnahmen getroffen wird, den Gang zum Gericht und zum Gerichtshof der EU in Luxemburg eröffnet. Auch russische Oligarchen, die nicht durch besondere Kritik am Kreml aufgefallen wären, bekommen dort ein faires Verfahren. Und manchmal gewinnen sie, wie das am 10. April in den Causen der Bankiers Petr Aven und Mikhail Fridman der Fall war.

Diese Herrschaft des Rechts gereicht der EU zur Ehre und unterscheidet sie von Diktaturen wie Russland, Iran oder China. Zu oft wird sie jedoch als Ausrede für mangelnden politischen Mut missbraucht – oder, schlimmer noch, für zynisches Kalkül. Rund 30 Prozent der russischen Ölexporte, die unter Umgehung des westlichen Höchstpreises von 60 Dollar pro Fass von einer „Schattenflotte“ transportiert werden, fahren auf Tankern westlicher Reeder über die Weltmeere. Allen voran griechische Tycoons haben ihre Flotten diskret an ein intransparentes System von Zwischenhändlern abgetreten. Es wäre im Interesse der EU, und vor allem der Ukraine, diesen Missbrauch zu ahnden. Doch das würde die Erfolgsgeschichte des Aufschwungs Griechenlands unter Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis trüben, die man sich vor allem in seiner Europäischen Volkspartei so stolz erzählt.

Der Rechtsstaat ist ein wertvolles Gut. Es ist perfid, ihn zur Verschleierung von politischem Opportunismus zu missbrauchen – egal, ob es um griechische Tanker oder iranische Terroristen geht.

E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

QOSHE - Der Rechtsstaat darf kein Feigenblatt für mutlose Politik sein - Oliver Grimm
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Der Rechtsstaat darf kein Feigenblatt für mutlose Politik sein

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22.04.2024

Die Maßnahmen gegen den Iran und Russland müssen juristisch wasserdicht sein. Dahinter darf sich aber nicht politische Feigheit verbergen.

Der Rat erlässt Beschlüsse, in denen der Standpunkt der Union zu einer bestimmten Frage geografischer oder thematischer Art bestimmt wird. Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass ihre einzelstaatliche Politik mit den Standpunkten der Union in Einklang steht.“ So schlicht fasst Artikel 29 des EU-Vertrags die Grundlage der Sanktionenpolitik der Union ein. Personen, Unternehmen, Organisationen, ganze Staaten werden „restriktiven Maßnahmen“ unterworfen, wenn sie sich etwas zuschulden kommen lassen, das der politischen Linie der EU zuwiderläuft. 1119 Seiten umfasst derzeit die Gesamtliste der mit finanziellen Sanktionen belegten Personen, Unternehmen, Organisationen.

Hat all das etwas bewirkt? Man darf es bezweifeln. Nicht nur der verschärfte russische Vernichtungskrieg gegen das ukrainische Volk straft das Selbstlob europäischer Politiker Lügen. Es gibt kein einziges Land, in dem die Sanktionspolitik der EU........

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