So famos ihr Wahlerfolg 2019 war, so herb dürfte heuer die Abfuhr für Europas Grüne ausfallen. Das liegt an der politischen Großwetterlage, aber auch an den handelnden Personen.

Kennen Sie Malte Gallée? Mir war der Name bis vor etwas mehr als einer Woche auch unbekannt. Dann veröffentlichte der „Stern“ das Ergebnis langer Recherchen, denen zufolge dieser deutsche Europaabgeordnete der Grünen mehrere Mitarbeiterinnen der grünen Fraktion sexuell belästigt haben soll. Seit 2022 habe auch die Fraktionsspitze davon Kenntnis gehabt, jedoch nichts unternommen. Gallée beteuert seine Unschuld, von seinem Mandat ist er jedoch zurückgetreten. Wer den Schaden hat, braucht auch im Europaparlament für den Spott nicht zu sorgen. Am Dienstag veröffentlichte die Europäische Volkspartei einen Brief von 14 weiblichen Abgeordneten, darunter der ÖVP-Delegationsleiterin Angelika Winzig, in dem sie die grüne Doppelspitze, die Deutsche Terry Reintke und den Belgier Philippe Lamberts, zu vollumfänglicher Aufklärung auffordern. „Wir erwarten eine unmittelbare Antwort, weil es unsere Pflicht ist, unsere Angestellten zu schützen“, mahnten sie.

Am Montag wanden sich Reintke und Lamberts bei einer Pressekonferenz in Straßburg um dieses Thema herum (hier ungefähr ab Minute 14:00 und 21:00). Vor allem Reintkes Haltung ist bemerkenswert. Die 36-Jährige Gelsenkirchenerin macht ansonsten aus ihrer feministischen Gesinnung keine Mördergrube, und auch ihre persönliche sexuelle Orientierung rückt sie immer wieder zu politischen Zwecken ins Rampenlicht. Wer so betont politisch korrekt in allen Geschlechterfragen ist, von dem sollte man zumindest erwarten, im eigenen Haus sexuelle Nötigung schon beim geringsten Verdacht rigoros zu ahnden.

DIe Gallée-Affäre fügt sich geschlossenen ins aktuelle Landschaftsbild für Europas Grüne. Und das sieht ziemlich übel aus. Vor fünf Jahren erzielten sie ihr bisher bestes Ergebnis bei der Europawahl, 71 der 705 Sitze im Parlament machen zur derzeit viertgrößten Fraktion. Damit wurden sie im Juli 2019 auch erstmals zum Zünglein an der Waage, als es darum ging, die neue Europäische Kommission ins Amt zu heben. Ursula von der Leyen verdankt ihre mit nur neun Stimmen Überhang denkbar knappe Wahl auch und vor allem den Stimmen zahlreicher grüner Abgeordneter. Die wurden mit dem Europäischen Grünen Deal geködert, aber auch mit dem etwas wirren Projekt des „Neuen Europäischen Bauhaus“, im Rahmen dessen eine hochrangige grüne Fraktionsmitarbeiterin auf einen gut besoldeten Posten in der Kommission weggelobt wurde. Ich habe die damalige Forderung diverser grüner Abgeordneter, allen voran jene des langjährigen IBM-Managers Lamberts, noch gut im Ohr, wonach die Grünen beim nächsten Mal in das Arbeitsabkommen zwischen Europäischer Volkspartei, Sozialdemokraten und Liberalen aufgenommen werden sollten. Da geht es um politische Prioritäten, vor allem aber auch um machtvolle Posten in der Verwaltung des Parlaments.

Davon können die Grünen heute nur träumen. Denn bei der Wahl am 9. Juni erwartet sie eine herbe Abfuhr. Seit Monaten sinken sie in den laufenden Umfragen, welche „Politico“ in seinem „Poll of Polls“-Projekt analysiert. 43 Mandate würden nach aktuellem Stand für sie herausschauen. Die beiden Rechtsaußenfraktionen „Identität & Demokratie“ (da ist die FPÖ dabei) sowie „Europäische Konservative und Reformer“ (mit – derzeit – der polnischen PiS und den Fratelli d‘Italia) werden ziemlich sicher meilenweit vor den Grünen liegen. Von 71 Mandaten auf 43: so ein Verlust von knapp 40 Prozent ist für die Partei ein katastrophales Szenario.

Dieser Abstieg ist in erster Linie dem geschuldet, was man politische Großwetterlage nennen kann. 2019 schafften die Klimademonstrationen der „Fridays for Future“ öffentliche Bewusstseinsbildung. Fünf Jahre später hingegen sorgen sich die Europäer in erster Linie wegen hoher Lebenshaltungskosten, der wirtschaftlichen Unsicherheit, und des Krieges in der Ukraine. Doch schon damals war die Analyse des Meinungsbildes trügerisch. „Es gab 2019 kein politisches Mandat für den Grünen Deal“, sagte die niederländische Politikwissenschaftlerin Catherine de Vries (Bocconi-Universität, Mailand) unlängst bei einer Diskussionsveranstaltung des Brüsseler Thinktanks Bruegel. „Die Kommission schaute sich damals das Wahlergebnis angesehen und festgestellt, dass die Wahlbeteiligung junger Leute gestiegen war. Und junge Leute mögen Klimapolitik.“ Doch selbst Frans Timmermans, der dann als Vizepräsident der Kommission für den Grünen Deal zuständig war, erwähnte Klimapolitik in seiner damaligen Kampagne als Spitzenkandidat der Sozialdemokraten höchstens am Rande.

Doch die Grünen werden es sich am Wahlabend des 9. Juni zu leicht gemacht haben, ihr Debakel einzig auf die böse Welt zu schieben, die sich nicht mehr um den Klimawandel schert. Es liegt immer auch an den handelnden Personen. Und man tut sich als langjähriger Beobachter schwer, kein Führungsversagen in der Fraktion zu erkennen. Das hat schon 2016 begonnen, zu einer Zeit, als die Grünen in Europa noch im Aufwind waren. Damals gab die langjährige Fraktionschefin, Rebecca Harms, den parteiinternen Machtkampf gegen den Flügel rund um Reintke und die spätere Spitzenkandidatin für die Wahl 2019, Ska Keller, entnervt auf. Sie waren 2014 kraft einer geschickt orchestrierten Online-Kampagne ins Parlament gewählt worden (Keller zum bereits zweiten Mal), wo sie gleich nach dessen Konstituierung für einen Höhepunkt des Fremdschämens sorgten.

Keller war von 2016 bis 2022 Ko-Fraktionschefin, danach übergab sie an Reintke. Beide eint, dass sie ihr gesamtes Berufsleben im grünen Kosmos verbracht haben. Professionelle Erfahrungen außerhalb dessen sucht man vergebens. Lamberts, ein geistreicher Realo mit Erfahrung im echten Wirtschaftsleben und Bodenhaftung (er stammt aus einer Brüsseler Arbeiterfamilie, und fühlt sich in Anderlechter Wirtshäusern wohler als in veganen Restaurants mit Michelin-Stern), spielte stets nur die zweite Geige. Zudem beendet er heuer seine politische Karriere.

Seit Jahren also machen die europäischen Grünen in Brüssel und Straßburg allzu oft Politik von Parteiinsidern für Parteiinsider. So etwas verstellt den Blick auf die Zeichen der Zeit. Als ich Reintke vor einigen Monaten bei einem Dinner der Fraktion für Journalisten sagte, dass es möglicherweise legitime Sorgen der Bürger wegen irregulärer Migration und der kulturellen Reibereien, die sich daraus entwickeln, gebe, und man dieses Thema nicht den Demagogen überlassen sollte, blickte sie mich an, als hätte ich ihr in die Topinambur-Reduktion auf fermentiertem Rhabarber gerülpst.

Und so wird es interessant sein, zu beobachten, wie sich die europäischen Grünen nach der Europawahl neu aufstellen. Reintke dürfte, sofern nicht ein Wunder geschieht, und bisher versteckte Kohorten von grünen Wählern aufmarschieren, als Fraktionschefin nicht mehr haltbar sein. Dann wird sich auch die Frage stellen, ob die Fraktion nach 22 Jahren weiterhin von einem oder einer Deutschen geleitet werden soll. Realos wie Lamberts wird es auch nach seinem Ausscheiden aus dem Parlament geben. Den Österreicher Thomas Waitz würde ich beispielsweise dazu zählen. Wenn sich allerdings die Parteiinsider durchsetzen, kann ich mir schwer vorstellen, wie die Marginalisierung dieser politischen Bewegung aufzuhalten sein wird.

QOSHE - Grünes Wahldebakel mit Ankündigung - Oliver Grimm
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Grünes Wahldebakel mit Ankündigung

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14.03.2024

So famos ihr Wahlerfolg 2019 war, so herb dürfte heuer die Abfuhr für Europas Grüne ausfallen. Das liegt an der politischen Großwetterlage, aber auch an den handelnden Personen.

Kennen Sie Malte Gallée? Mir war der Name bis vor etwas mehr als einer Woche auch unbekannt. Dann veröffentlichte der „Stern“ das Ergebnis langer Recherchen, denen zufolge dieser deutsche Europaabgeordnete der Grünen mehrere Mitarbeiterinnen der grünen Fraktion sexuell belästigt haben soll. Seit 2022 habe auch die Fraktionsspitze davon Kenntnis gehabt, jedoch nichts unternommen. Gallée beteuert seine Unschuld, von seinem Mandat ist er jedoch zurückgetreten. Wer den Schaden hat, braucht auch im Europaparlament für den Spott nicht zu sorgen. Am Dienstag veröffentlichte die Europäische Volkspartei einen Brief von 14 weiblichen Abgeordneten, darunter der ÖVP-Delegationsleiterin Angelika Winzig, in dem sie die grüne Doppelspitze, die Deutsche Terry Reintke und den Belgier Philippe Lamberts, zu vollumfänglicher Aufklärung auffordern. „Wir erwarten eine unmittelbare Antwort, weil es unsere Pflicht ist, unsere Angestellten zu schützen“, mahnten sie.

Am Montag wanden sich Reintke und Lamberts bei einer Pressekonferenz in Straßburg um dieses Thema herum (hier ungefähr ab Minute 14:00 und 21:00). Vor allem Reintkes Haltung ist bemerkenswert. Die 36-Jährige Gelsenkirchenerin macht ansonsten aus ihrer feministischen Gesinnung keine Mördergrube, und auch ihre persönliche sexuelle Orientierung rückt sie immer wieder zu politischen Zwecken ins Rampenlicht. Wer so betont politisch korrekt in allen Geschlechterfragen ist, von dem sollte man zumindest erwarten, im eigenen Haus sexuelle Nötigung schon beim geringsten Verdacht rigoros zu ahnden.

DIe Gallée-Affäre fügt sich geschlossenen ins aktuelle Landschaftsbild für........

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