Frankreichs Präsident legt ein neues Wunschprogramm für die EU vor. Vieles davon ist wichtig, einiges illusorisch, manches alarmierend.

Man spare sich die lahmen Scherze über den eitlen Gallier, der seinen eigenen 90-Minuten-Redemarathon von 2017 um 20 Minuten übertroffen hat: Emmanuel Macrons zweite Europarede an der Universität Sorbonne ist ein wichtiger politischer Text, dem man anmerkt, dass hier gehörig viel Gehirnschmalz der Expertenstäbe des französischen Präsidenten investiert wurde. Man darf sich als Europäer wünschen, dass auch andere Staats- und Regierungschefs sich derart umfassend mit der Union befassen. Sind programmatische Grundsatzreden von Olaf Scholz überliefert? Von Giorgia Meloni? Oder gar von Karl Nehammer?

Selbst Macrons Kritiker müssen anerkennen, dass er in seiner ersten Sorbonne-Rede vor sieben Jahren mehrere fundamentale Probleme des europäischen Projekts punktgenau diagnostiziert hat. Seine „strategische Autonomie“ – von der Diplomatie über die Sicherheit bis zur Wirtschaft – wurde damals mancherorts (und vor allem ostseitig des Rheins) als jupiterhaftes Gegockel weggewedelt. Heute ist die Frage, wie das alternde und gegen die rasante Deindustrialisierung kämpfende Europa auf dem Schachbrett der Weltpolitik bestehen und den Wohlstand seiner Bürger sichern soll, in aller Munde.

Gewiss: Europa kann sterben, wie Macron nun warnt, auch wenn man es ein wenig übertrieben finden kann, wenn er als potenzielle Todesursache den Umstand anführt, dass „unser Europa sich selbst nicht liebt“. Abseits solcher oratorischer Girlanden enthält diese Rede aber viel, über das in der Sache zu diskutieren wichtig ist. Eine „Macht Europa“, die sich Respekt verschafft, ihre Sicherheit selber garantiert: diesem Ziel wird sich keine ernsthafte politische Bewegung in der EU widersetzen, doch wie soll es erreicht werden? Macron schlägt vor, eine „europäische Verteidigungsinitiative“ zu schaffen, die auch einen europäischen Raketenschutzschild umfasst. Eine möchte eine gemeinsame europäische Kapazität für Cyberverteidigung, und natürlich wünscht er sich eine gemeinsame europäische Schuldaufnahme, um diese Verteidigungspolitik zu finanzieren, einschließlich einer (wie auch immer festgeschriebenen) Präferenz für europäische Produkte bei Rüstungskaufen.

An diesem Beispiel der Sicherheitspolitik illustriert sich das grundlegende Problem, das man bei Macrons Denken immer wieder erkennt: eine richtige Analyse zieht einige vernünftige Schlüsse nach sich – denen dann sofort irritierende nationale französische Sonderwünsche folgen.

Macron, flankiert von den Mittelmeerstaaten, fordert seit Längerem neue europäische Schulden. Das begründen sie mit dem angeblichen Erfolg des Corona-Wiederaufbaufonds. Doch der entpuppt sich mehr und mehr als Quell tiefer politischer Probleme. Viele Staaten haben einen Gutteil der ihnen zustehenden Mittel noch gar nicht abgerufen. Vieles, das mit diesem Geld gebaut wird, trägt weder zu den Zielen der Dekarbonisierung und Digitalisierung bei, sondern stammt schlicht von der Wunschliste lokal und regional einflussreicher Parteifürsten. Und der jüngst von Eurojust ausgehobene, mehr als 600 Millionen Euro schwere Ring von Betrügereien italienischer Krimineller mit Corona-Fonds-Mittel lässt die Sorge blühen, dass hier möglicherweise nur die Spitze eines Eisbergs von Missbrauch und Betrug zum Vorschein gekommen ist.

Macrons erneute Forderung nach einem Euro-Verteidigungsfonds muss man zudem vor dem Hintergrund der schweren budgetären Probleme sehen, in denen Frankreich unter seiner Regierung steckt. Mehr als 20 Milliarden Euro muss Finanzminister Bruno Le Maire binnen zwei Jahren einsparen, die Maastrichtkriterien werden sonst nicht einzuhalten sein.

Vor diesem Hintergrund der französischen Haushaltsnot muss man auch Macrons Forderung verstehen, die Europäische Zentralbank solle nicht nur die Inflation bekämpfen, sondern auch „ein Wachstumsziel, gar ein Ziel der Dekarbonisierung“ erhalten. Budgetfinanzierung durch die Notenbank? Spätestens hier sollten nicht nur bei der Bundesbank die Alarmglocken läuten. Und so zeigt sich einmal mehr: Macron ist der größte Feind seiner eigenen guten Ideen.

E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

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Macron und Europa: Zwischen Anspruch und Wirklichkeit

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25.04.2024

Frankreichs Präsident legt ein neues Wunschprogramm für die EU vor. Vieles davon ist wichtig, einiges illusorisch, manches alarmierend.

Man spare sich die lahmen Scherze über den eitlen Gallier, der seinen eigenen 90-Minuten-Redemarathon von 2017 um 20 Minuten übertroffen hat: Emmanuel Macrons zweite Europarede an der Universität Sorbonne ist ein wichtiger politischer Text, dem man anmerkt, dass hier gehörig viel Gehirnschmalz der Expertenstäbe des französischen Präsidenten investiert wurde. Man darf sich als Europäer wünschen, dass auch andere Staats- und Regierungschefs sich derart umfassend mit der Union befassen. Sind programmatische Grundsatzreden von Olaf Scholz überliefert? Von Giorgia Meloni? Oder gar von Karl Nehammer?

Selbst Macrons Kritiker müssen anerkennen, dass er in seiner ersten Sorbonne-Rede vor sieben Jahren mehrere fundamentale Probleme des europäischen Projekts punktgenau diagnostiziert hat. Seine „strategische Autonomie“ – von der Diplomatie über die Sicherheit bis zur Wirtschaft – wurde damals mancherorts (und vor........

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