Neulich im „Vista“ am Sunset Boulevard. Der Saal des ältesten noch bespielten Kinos von Los Angeles ist proppevoll. Das will nicht arg viel heißen, denn die ursprünglich neunhundert Plätze des 1923 eröffneten Art-déco-Filmtheaters sind im Zuge der Renovierung auf weniger als die Hälfte zurückgeführt worden. Man sitzt nicht gerne so gedrängt wie vor hundert Jahren. Mancher säße wohl auch lieber in einem nach hinten ansteigenden Saal, denn dann wären die Untertitel des Films zu lesen, der da im „Vista“ läuft.

Doch Unter­titel gab es in der Stummfilmzeit, als das Kino gebaut wurde, nicht, nur Zwischen­titel, und die füllten die gesamte Leinwand. Kein Problem also selbst für Hintensitzende im flachen Parkett, damals auf dem Laufenden zu bleiben, was die Handlung anging. Aber heute? Da läuft Jonathan Glazers „The Zone of Interest“, und dessen Darsteller sprechen eine Sprache, die in Los Angeles nicht allzu viele Kinogänger beherrschen dürften: Deutsch.

Zudem sprechen sie es leise, denn das ästhetische Prinzip des Oscar-nominierten Spielfilms über die Familie des KZ-Kommandanten von Auschwitz ist Distanznahme: viele Aufnahmen aus dem Rücken der Figuren, lieber Unter- als Übersicht, und eben räumlicher Abstand, der natürlich auch die Gespräche dämpft – Glazers kunstfertiger Film setzt an der Oberfläche auf ­Naturalismus.

Die Tonspur allerdings hat eine zweite, surreale Ebene: Geräusche aus dem unmittelbar neben der Kommandantenvilla liegenden Konzen­trationslager sind permanent präsent, und bisweilen fahren sie wie Signalstöße ins totenruhige Geschehen. Dann schreckt der Saal kollektiv auf, die Köpfe zucken hoch, aber sie sind ja eh die ganzen hundert Minuten Laufzeit in Bewegung, denn irgendwie muss man ja über die vorderen Reihen hinweg die Untertitel lesen, um zu wissen, was da gesagt wird. So wenig, wie es die deutsche Filmkritik für notwendig hielt zu erwähnen, dass Glazer seine deutschen Darsteller konsequent deren Heimatsprache sprechen lässt, so wenig hat das „Vista“ sein Publikum darüber informiert.

Nun sitzen hier überwiegend Cinephile, denn das Vista gehört Quentin Tarantino, der es vergangenes Jahr vor dem Abriss bewahrte. Innen ist es nun im Talmiglanz der goldenen Zwanziger ausgestattet, mit ägyptisierendem Dekor von höchster Plastikkünstlichkeit, doch wer denkt noch an den ganzen Tand ringsum, wenn sich auf der Leinwand die Nazi-Familie in ihrem wohlvertikutierten Garten vor der KZ-Mauer ergeht?

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Aber die Fassungslosigkeit der Zuschauer darüber soll ja nicht noch durch Begriffsstutzigkeit verstärkt werden, Tonspürsinn verlangt Verständlichkeit. Wir dagegen sind als Muttersprachler fein heraus, aber hundert Minuten lang leicht peinlich berührt, dass wir im Saal so weit vorne sitzen – selbst zwar ohne Sprachprobleme, doch denen mit solchen im Weg.

QOSHE - Deutsch-amerikanischer Tonspürsinn - Andreas Platthaus
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Deutsch-amerikanischer Tonspürsinn

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02.03.2024

Neulich im „Vista“ am Sunset Boulevard. Der Saal des ältesten noch bespielten Kinos von Los Angeles ist proppevoll. Das will nicht arg viel heißen, denn die ursprünglich neunhundert Plätze des 1923 eröffneten Art-déco-Filmtheaters sind im Zuge der Renovierung auf weniger als die Hälfte zurückgeführt worden. Man sitzt nicht gerne so gedrängt wie vor hundert Jahren. Mancher säße wohl auch lieber in einem nach hinten ansteigenden Saal, denn dann wären die Untertitel des Films zu lesen, der da im „Vista“ läuft.

Doch Unter­titel gab es in der Stummfilmzeit, als das Kino gebaut wurde, nicht, nur Zwischen­titel, und die füllten die gesamte Leinwand. Kein Problem also selbst für Hintensitzende im flachen Parkett, damals auf dem Laufenden zu........

© Frankfurter Allgemeine


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