Wir schauen derzeit höchst besorgt nach Osten: Osteuropa, Nahost. Der Süden gerät darüber aus dem Blick, etwa Südamerika, wo Venezuelas Pläne zur Annexion von zwei Dritteln des Nachbar­landes Guayana ebenso bedrohlich sind wie die Wahl des Populisten Javier Milei zum argentinischen Staatspräsidenten (und bei einem Sieg seines peronistischen Gegenkandidaten wäre es kaum anders gewesen; allein schon diese Auswahl war ein Drama).

Mileis Bewegung will mit radikaler Liberalisierungspolitik Schule machen, auch ganz buchstäblich: Unmittelbar vor dem entscheidenden zweiten Wahlgang vom 19. November hatte seine Mitstreiterin und Vizepräsidentschaftskandidatin Victoria Villarruel angekündigt, dass im Falle von Mileis Sieg die ESMA in Buenos Aires wieder zu einer Schule umgewandelt werden solle. Es handelt sich dabei um die frühere Escuela de Mecánica de la Armada (Technikschule der Marine), wo während der Herrschaft der Militärjunta (1976 bis 1983) ein Geheimgefängnis und ein Folterzentrum eingerichtet waren, woran seit 2007 eine Gedenkstätte erinnert.

2010 wurde der ganze Komplex zum Sitz des Instituts für Menschenrechte des Staatenbundes Mercosur, und erst im ­vergangenen Oktober ernannte die UNESCO das jetzt der ­Erinnerung an den Schrecken gewidmete Areal zum Weltkulturerbe. Doch Milei hatte im Wahlkampf ein „vollständiges Gedenken“ verlangt, das neben den auf bis zu 30.000 geschätzten Opfern der Junta auch diejenigen 1500 Menschen berücksichtigen müsse, die zuvor von linken Guerillagruppen ermordet worden waren.

In den frühen Sieb­zigerjahren, so hatte der Präsidentschaftskandidat verkündet, habe „Krieg“ in Argentinien geherrscht – diese Klassifizierung rechtfertigt den Terror der Militärregierung. Dass die Gedenkstätte der ESMA nur deren Opfern gewidmet sei, belegt für Milei einmal mehr das Versagen der alten Regierung, und deshalb (sowie aus finanziellen Gründen) müssten alle Gedenkorte zur argentinischen Diktatur geschlossen werden. Und neue würden den Staat ja nur Geld kosten.

Nun ist in den drei Wochen seit der Stichwahl nichts Konkretes mehr zu hören gewesen zu Mileis provokantesten Plänen: Abschaffung etlicher Ministerien, Einführung des US-Dollars als Staatswährung und eben Beendigung des Gedenkens. Doch noch ist der gewählte Präsident nicht vereidigt. Bei Schließung der Gedenkorte wäre die historische Forschung zu den Mlitärregierungsverbrechen unmöglich gemacht, denn auch das in Buenos Aires angesiedelte Universitätsinstitut der Madres de Plaza de Mayo, der Vereinigung der Mütter von während der Junta-Jahre Verschwundenen, wäre von einer Streichung der Mittel betroffen.

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Drohender Ausverkauf der Erinnerung

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07.12.2023

Wir schauen derzeit höchst besorgt nach Osten: Osteuropa, Nahost. Der Süden gerät darüber aus dem Blick, etwa Südamerika, wo Venezuelas Pläne zur Annexion von zwei Dritteln des Nachbar­landes Guayana ebenso bedrohlich sind wie die Wahl des Populisten Javier Milei zum argentinischen Staatspräsidenten (und bei einem Sieg seines peronistischen Gegenkandidaten wäre es kaum anders gewesen; allein schon diese Auswahl war ein Drama).

Mileis Bewegung will mit radikaler Liberalisierungspolitik Schule machen, auch ganz buchstäblich: Unmittelbar vor dem entscheidenden zweiten Wahlgang vom 19. November hatte seine Mitstreiterin und Vizepräsidentschaftskandidatin Victoria Villarruel angekündigt, dass im Falle von Mileis Sieg die ESMA in Buenos Aires wieder zu einer Schule umgewandelt........

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