In den dritten Stock geht es hin­ab, das ist ungewöhnlich. Aber die Boelter Hall auf dem Campus der University of California in Los Angeles (UCLA) ist in einen Hang hineingebaut, und so führt der Haupt­eingang gleich ins fünfte Geschoss. Doch wir suchen Raum 3420, und schließlich stehen wir vor einem kleinen Gelass ohne Fenster – bis auf das der verschlossenen Eingangstür. In diesem Darkroom wurde Geschichte geschrieben, und die bestand aus zwei Buchstaben: LO.

Semantisch gibt das wenig her, aber wir sind ja auch nicht im Sitz der Linguisten, sondern dem für Ingenieurswissenschaften an der UCLA, und die hatten sich seit 1968 an der Entwicklung des Arpanet beteiligt, einer vom amerikanischen Verteidigungsministerium angeregten Vernetzung mehrerer an Rüstungs­forschung beteiligter Universitäten. In seinem stillen Kämmerlein mit Raumnummer 3420 führte am 29. Oktober 1969 ein Student namens Charley Kline den ersten digitalen Datentransfer durch, als er einem Kollegen an der Stanford University die Nachricht „Login“ schicken wollte, wovon das System aber nur die ersten beiden Buchstaben übermitteln konnte, ehe es zusammenbrach. Der Start dessen, was einmal das Internet werden sollte, verlief wenig spektakulär, manche heutigen User mögen sagen: symptomatisch.

Und so geriet die Geburtskammer des Internets in zwischenzeitliche Vergessenheit, bis 2009 zum vierzigsten Jahrestag eine Gedenk­tafel darin aufgehängt wurde und 2012 der damalige Google-Chef Eric Schmidt zusammen mit weiteren Netz-Profiteuren eine Rückführung von Raum 3420 auf dessen Aussehen im Jahr 1969 finanzierte. So blicken wir durch das Türfenster in einen kleinen Raum mit großen Maschinen, wie sie die frühe Rechnertechnik erforderte, während heute winzige Geräte den Riesenraum des World Wide Web öffnen – ein museales Paradox. Die Authentizität von Raum 3420 leidet ein wenig darunter, dass in der Ecke rechts ein Filmplakat von Werner Herzogs „Lo and Behold“ aus dem Jahr 2016 aufgehängt ist, einer Dokumentation zur Internetgeschichte, deren Titel sich jener ersten amputierten Botschaft verdankt, die von den un­geachtet ihres Systemabsturzes begeisterten Pionieren gerade der Kürze wegen als günstiges Zeichen um­gedeutet werden konnte, weil die eng­lische Redewendung „Lo and behold!“ dem deutschen „Na, da schau her!“ entspricht.

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Richtig wörtlich nahm diese Floskel aber erst Erik Hagen, ein Hausarchitekt der UCLA, dem 2011 die Aufgabe übertragen worden war, die Boelter Hall auf Vordermann zu bringen. Beim Fliesen eines hang­abwärtsgelegenen Nebeneingangs im zweiten Geschoss ließ Hagen ohne Wissen seiner Auftraggeber ein Muster legen, das dem binären Code für „Lo and behold!“ entspricht. Es dauerte zwei Jahre, bis ein Student genau hinschaute und die Hommage entschlüsselte. Seitdem ist sie fester ­Bestandteil des Gedächtnisparcours durch Boelter Hall, der in die Ein­geweide eines Zweckbaus führt, die uns einiges bescherten, woran auch wir noch lange zu verdauen haben.

QOSHE - Vor Raum 3420 - Andreas Platthaus
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Vor Raum 3420

5 0
24.01.2024

In den dritten Stock geht es hin­ab, das ist ungewöhnlich. Aber die Boelter Hall auf dem Campus der University of California in Los Angeles (UCLA) ist in einen Hang hineingebaut, und so führt der Haupt­eingang gleich ins fünfte Geschoss. Doch wir suchen Raum 3420, und schließlich stehen wir vor einem kleinen Gelass ohne Fenster – bis auf das der verschlossenen Eingangstür. In diesem Darkroom wurde Geschichte geschrieben, und die bestand aus zwei Buchstaben: LO.

Semantisch gibt das wenig her, aber wir sind ja auch nicht im Sitz der Linguisten, sondern dem für Ingenieurswissenschaften an der UCLA, und die hatten sich seit 1968 an der Entwicklung des Arpanet beteiligt, einer vom amerikanischen Verteidigungsministerium angeregten Vernetzung mehrerer an Rüstungs­forschung beteiligter........

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