Man kann die niederländische Demokratie als besonders vital loben. Repräsentativer geht es kaum. Für jede Nachfrage gibt es sofort ein Angebot. Denn praktisch jeder kann ohne Aufwand eine Partei gründen, ein einziges Mitglied genügt. Und Wähler müssen nicht bangen, dass ihre Protest- oder Probierstimme „verloren“ wäre, denn es gibt keine Sperrklausel. Für jede 0,67 Prozent der Stimmen gibt es ein Mandat.

Viele Niederländer finden das gut. Nicht nur in der Gesellschaftspolitik beschreiten sie gern neue Wege. Auch Wähler strafen gern das Altbekannte ab und probieren, oft kurz entschlossen, etwas aus. Stabilität reimt sich für sie auf Stillstand, Beständigkeit auf Bedenkenhuberei.

Im künftigen Haager 15-Parteien-Parlament stellt die brandneue Formation „Neuer Gesellschaftsvertrag“ des Christdemokraten Pieter Omtzigt mit 20 der 150 Abgeordneten gleich die viertstärkste Fraktion und hat nun eine Schlüsselstellung bei der Regierungsbildung. Die fast so taufrische Bauern-Bürger-Bewegung, die noch bei den Provinzwahlen im Frühjahr vom Reiz des Unbekannten profitierte und stärkste Kraft wurde, kam mit für sie enttäuschenden sieben Mandaten immerhin noch auf Rang sechs.

Ganz vorn aber landete die Freiheitspartei PVV, die der Islamfeind Geert Wilders schon vor 18 Jahren gegründet und – als ihr bis heute einziges Mitglied – unbeirrt durch die Höhen und Tiefen der niederländischen Jo-Jo-Demokratie gesteuert hat.

Damit gehört die PVV zwar längst nicht mehr zu den jungen Wilden, sondern faktisch zu den etablierten Kräften; Wilders war nach dem Rückzug des langjährigen rechtsliberalen Ministerpräsidenten Mark Rutte für viele Wähler das bekannte Gesicht. Dennoch bedeutet sein Triumph Gefahr für die Demokratie und den Platz der Niederlande in Europa.

Die Begrenzung der Migration hatten sich diesmal viele Kräfte auf die Fahnen geschrieben. Die Wähler aber liefen dem Mann zu, der den Islam als „faschistische Ideologie“ betrachtet, den Koran verbieten und das Diskriminierungsverbot aus der Verfassung streichen will; der das Kopftuchtragen von Musliminnen besteuern wollte und wegen Anstiftung zur Diskriminierung verurteilt ist, weil er gelobte, für „weniger Marokkaner“ zu sorgen. Außerdem lehnt Wilders Klimaschutz ab, will der Ukraine nicht mehr helfen – und sein Land aus der EU führen.

Nun aber gibt er vor, Ministerpräsident „für alle Niederländer“ werden zu wollen, und er braucht Koalitionspartner. Dabei mimt er genau den Pragmatismus, der so viele Wähler leitet. Ausdrücklich als Zugeständnis an potentielle Partner bietet Wilders an, nun eine Politik „im Rahmen der Verfassung“ zu machen. Seine seit Jahr und Tag propagierten Ziele wie das Verbot des Korans, die Schließung von Moscheen und Ähnliches wolle er „auf Eis legen“. Die möglichen Koalitionspartner halten sich die Tür zunächst offen. Sie scheuen davor zurück, ausgerechnet jetzt, da die Wählerlust auf Disruption so deutlich hervortritt, doch wieder eine Brandmauer hochzuziehen, obwohl solches Ausgrenzen in den Niederlanden schon lange verpönt ist.

Und doch müssen sie es tun. Ein Politiker, der jahrzehntelang aus seiner Missachtung für die Verfassung keinen Hehl machte, hat an der Macht nichts verloren, auch wenn er sich plötzlich (für seine Verhältnisse) zahm gibt. Rutte hatte, als er 2010 mit Wilders einen kurzlebigen Pakt zur Duldung einer Minderheitsregierung einging, immerhin von Anbeginn klargemacht, dass es in Fragen von Religionsfreiheit und Migration sowie in der Europapolitik keine Zusammenarbeit gebe. Solche Kooperation à la carte aber ginge nicht, wenn Wilders selbst die Regierung führte.

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Ihn zum Ministerpräsidenten zu wählen wäre daher nicht parlamentarische Abenteuerlust, sondern ein Offenbarungseid. Die Niederlande sind zwar nicht Frankreich; die EU würde eine Wilders-Koalitionsregierung vielleicht noch aussitzen können, ohne daran zu zerbrechen wie womöglich an einer Präsidentin Le Pen. Aber die Handelsnation spielt als EG-Gründungsmitglied, auch als Verbündeter Deutschlands in wichtigen Fragen, durchaus in einer wichtigeren Liga als etwa Ungarn.

Das Dilemma für die anderen Rechtsparteien wird dadurch verschärft, dass ein Mitte-Bündnis kaum an dem Sozialdemokraten und früheren Vizepräsidenten der EU-Kommission Frans Timmermans vorbeikäme, der dank einer Notfusion mit den Grünen die zweitstärkste Kraft anführt. Er hat nach Wilders’ Sieg nicht nur allen Menschen mit Migrationshintergrund seine Solidarität versichert, sondern auch bekräftigt, dass die Niederlande weiterhin Menschen aufnehmen wollten, die vor Krieg und Gewalt fliehen. Genau diese Botschaft aber hat die Mehrheit der Wähler abgewählt. Sollte eine neue Anti-Wilders-Koalition ein asylpolitisches „Weiter so“ betreiben – dann gäbe es keinen Grund, die niederländische Demokratie als besonders repräsentativ zu bewundern.

QOSHE - Geert Wilders darf nicht regieren - Andreas Ross
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Geert Wilders darf nicht regieren

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23.11.2023

Man kann die niederländische Demokratie als besonders vital loben. Repräsentativer geht es kaum. Für jede Nachfrage gibt es sofort ein Angebot. Denn praktisch jeder kann ohne Aufwand eine Partei gründen, ein einziges Mitglied genügt. Und Wähler müssen nicht bangen, dass ihre Protest- oder Probierstimme „verloren“ wäre, denn es gibt keine Sperrklausel. Für jede 0,67 Prozent der Stimmen gibt es ein Mandat.

Viele Niederländer finden das gut. Nicht nur in der Gesellschaftspolitik beschreiten sie gern neue Wege. Auch Wähler strafen gern das Altbekannte ab und probieren, oft kurz entschlossen, etwas aus. Stabilität reimt sich für sie auf Stillstand, Beständigkeit auf Bedenkenhuberei.

Im künftigen Haager 15-Parteien-Parlament stellt die brandneue Formation „Neuer Gesellschaftsvertrag“ des Christdemokraten Pieter Omtzigt mit 20 der 150 Abgeordneten gleich die viertstärkste Fraktion und hat nun eine Schlüsselstellung bei der Regierungsbildung. Die fast so taufrische Bauern-Bürger-Bewegung, die noch bei den Provinzwahlen im Frühjahr vom Reiz des Unbekannten profitierte und stärkste Kraft wurde, kam mit für sie enttäuschenden sieben Mandaten immerhin noch auf Rang sechs.

Ganz vorn aber landete die Freiheitspartei PVV, die der Islamfeind Geert Wilders schon vor........

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