Die Moral der Gaza-Katastrophe hat der amerikanische Außenminister ausformuliert: „Wenn wir die Ehrfurcht vor menschlichem Leben verlieren“, sagte Antony Blinken, „dann laufen wir Gefahr, mit denen verwechselt zu werden, denen wir entgegentreten.“ Präsident Joe Biden hat offenkundig noch ganz andere Worte gefunden, als er Benjamin Netanjahu am Donnerstag ins Gebet nahm.

Um amerikanische Besorgnisse und Moralpredigten hat sich der israelische Ministerpräsident monatelang nicht geschert. Jetzt aber rang Biden sich zu Drohungen durch. Wie konkret sie ausfielen, ist ungewiss. Öffentlich wurde verkündet, dass die Vereinigten Staaten ihre Gaza-Politik – also die volle Unterstützung Israels im Kampf gegen die Hamas – ändern würden, wenn die Zivilbevölkerung und humanitäre Helfer dort nicht umgehend besser geschützt würden. Binnen Stunden kündigte das israelische Kriegskabinett an, mehr Übergänge für Hilfslieferungen zu öffnen. Wann das passieren soll, blieb freilich zunächst offen. Stattdessen wurde mitgeteilt, dass die Öffnung eines Hafens und eines seit dem Hamas-Angriff geschlossenen Grenzübergangs „vorübergehend“ erfolge.

Insofern bedeutet Israels schnelle Reaktion zunächst nicht mehr als dies: Netanjahu verspricht sich etwas davon, einen Hauch von Abhängigkeit einzugestehen und Biden damit ein kleines Erfolgserlebnis zu bescheren. Ob das Telefonat aber wirklich einen Wendepunkt im Nahen Osten bedeutet, muss sich noch weisen. Denn es geht nicht nur um humanitäre Hilfe, sondern vor allem um Israels Pläne für eine Offensive im Süden des Gazastreifens – sowie nicht zuletzt um seine Verhandlungsposition in den Gesprächen über die Freilassung der israelischen Geiseln, in die sich jetzt direkt Bidens CIA-Direktor einschaltet.

Nimmt man die Erklärung des Weißen Hauses zum Maßstab, so war das amerikanisch-israelische Verhältnis seit Jahrzehnten nicht so schlecht wie jetzt. Der Angriff der Hamas, der am Sonntag ein halbes Jahr her sein wird, wurde darin gar nicht mehr erwähnt, Israels Selbstverteidigungsrecht kam auch nicht vor. Andererseits hat die Biden-Regierung noch in dieser Woche die Lieferung von tausend 500-Pfund-Bomben an Israel genehmigt. Und das Weiße Haus bekräftigte zu Recht seine volle Unterstützung Israels angesichts der gerade wieder akuten Gefahr aus Iran.

Netanjahu ist einer der taktisch gewieftesten Spieler in der israelischen wie in der amerikanischen (Innen-)Politik. Er dürfte aus Bidens gemischten Signalen noch nicht den Schluss gezogen haben, er müsse seine persönlichen Interessen nun völlig dem langfristigen nationalen Interesse Israels unterordnen. Biden bleibt damit in einem Dilemma gefangen, das weit über seine Wahlkampfnöte mit den Israel- und den Palästinafreunden in seiner eigenen Partei hinausreicht.

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Wenn er Israel nun konkrete Bedingungen etwa für die Verwendung von Rüstungsgütern auferlegte oder gar deren Lieferung vorerst einstellte, dann bedeutete das einen umfassenden, öffentlichen Vertrauensentzug für Amerikas engsten Partner und die einzige Demokratie in der Region. Für die Erzfeinde des jüdischen Volkes und des Westens wäre das ein Geschenk, und die Folgen wären vermutlich weit über die Biden-Netanjahu-Ära spürbar. Netanjahu begreift diese Gefahr natürlich. Aber er weiß auch, dass Biden sie begreift.

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Kann Biden Netanjahu das Fürchten lehren?

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05.04.2024

Die Moral der Gaza-Katastrophe hat der amerikanische Außenminister ausformuliert: „Wenn wir die Ehrfurcht vor menschlichem Leben verlieren“, sagte Antony Blinken, „dann laufen wir Gefahr, mit denen verwechselt zu werden, denen wir entgegentreten.“ Präsident Joe Biden hat offenkundig noch ganz andere Worte gefunden, als er Benjamin Netanjahu am Donnerstag ins Gebet nahm.

Um amerikanische Besorgnisse und Moralpredigten hat sich der israelische Ministerpräsident monatelang nicht geschert. Jetzt aber rang Biden sich zu Drohungen durch. Wie konkret sie ausfielen, ist ungewiss. Öffentlich wurde verkündet, dass die Vereinigten Staaten ihre Gaza-Politik – also die volle Unterstützung Israels im Kampf gegen die Hamas – ändern würden, wenn die Zivilbevölkerung und humanitäre Helfer dort nicht umgehend besser geschützt würden. Binnen Stunden kündigte das........

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