Wenige Tage nach Ostern kann die NATO nicht nur ihren 75. Geburtstag feiern, sondern auch ihre Auferstehung von den Hirntoten und Obsoleten, zu denen sie noch vor wenigen Jahren ein französischer und ein amerikanischer Präsident gezählt hatten. Helle Freude über die Wiederbelebung, die sogar mit einer Vergrößerung einherging, kommt aber nicht einmal bei den treuesten Anhängern des atlantischen Verteidigungsbündnisses auf.

Denn es ist der schon seit zehn Jahren währende Krieg Russlands gegen die Ukraine, der die NATO aus ihrem Koma holte und ihr klarmachte, dass der Aggressor Putin auch eine akute Bedrohung für die Sicherheit ihrer Mitglieder ist.

Die Staaten des ehemaligen Ostblocks, die vor 20 und 25 Jahren aus freien Stücken dem Bündnis beitraten, hatten schon vor der Okkupation der Krim vor der Gefahr gewarnt, die im Osten heraufzog. Im Westen des Kontinents tat man das aber als Paranoia ab. Selbst als längst unübersehbar war, wes Ungeistes Kind Putin ist, galt in Deutschland noch das Axiom, Sicherheit in Europa sei nur „mit Russland“ zu erreichen – und Wohlstand nur mit russischem Gas. Dieser Träumerei setzte Putins Angriff auf die ganze Ukra­ine ein jähes Ende, wenn auch nicht in jedem einzelnen Fall, wie es Reflexe in der SPD zeigen.

Auch andere NATO-Staaten reagieren noch nicht mit allerletzter Konsequenz auf Putins Kurs, seine Diktatur dadurch abzusichern, dass er groteske Bedrohungen von außen erfindet und sich gleichzeitig als erfolgreicher Eroberer präsentiert.

In den meisten Hauptstädten des Westens weiß man, dass in der Ukra­ine nicht nur um deren territoriale Integrität und Souveränität gekämpft wird, sondern auch schon um die Sicherheit und das Selbstbestimmungsrecht der europäischen Staaten, deren Existenzrecht Putin und seine Büchsenspanner anzweifeln.

Überfiele der Kreml aber die baltischen Republiken oder Polen, befände die NATO sich im Krieg mit Russland. Selbst Bundeskanzler Scholz, der sich einer Besonnenheit rühmt, bekräftigte mehrmals, dass jeder Quadratzentimer des Bündnisgebiets verteidigt werden würde.

Um nicht an diesen furchtbaren Punkt zu gelangen, muss die NATO zweierlei tun. Sie muss die Ukraine so unterstützen, dass schon sie Putin aufhalten und zurückdrängen kann. Und die Allianz muss ihre militärischen Fähigkeiten so verstärken, dass sie Putin von einer Aggression gegenüber ihren Mitgliedstaaten abschreckt. Auf beiden Feldern geschieht noch nicht all das, was schon hätte geschehen können und müssen.

Gefahr droht der NATO im Jubiläumsjahr aber nicht nur aus dem Osten. Auch in ihrem Inneren tickt eine Zeitbombe. Sie trägt den Namen Trump. Sein Standpunkt, dass die Europäer selbst mehr für ihre Sicherheit tun müssen, war und ist richtig. Doch seit dem Zweiten Weltkrieg hat noch kein amerikanischer Präsident oder Präsidentschaftskandidat so große Zweifel an der Bündnistreue der Vereinigten Staaten gegenüber ihren europäischen Verbündeten gesät wie Trump.

Die amerikanische Versicherung, einen Angriff auf einen NATO-Staat als Angriff auf sich selbst zu betrachten, ist aber das Rückgrat der Verteidigungs- und Abschreckungsstrategie des Bündnisses. Die Abkopplung Amerikas von Europa, um die sich Sowjets jahrzehntelang vergeblich bemüht hatten, wäre eine Katastrophe für die Sicherheit der Europäer. Ein Aggressor wie Putin könnte die amerikanische Fahnenflucht nur als einmalige Gelegenheit begreifen. Denn die europäischen NATO-Mitglieder würden den Wegfall der konventionellen wie nuklearen Fähigkeiten Amerikas lange nicht kompensieren können, wenn überhaupt.

Die Sicherheit Europas und die Zukunft der NATO werden also nicht nur von Putins weiteren Kriegsplänen abhängen, sondern in besonderer Weise auch vom Ausgang der amerikanischen Wahl und den Entscheidungen des nächsten Präsidenten. Die Regierung Scholz scheint bisher darauf zu setzen, dass es schon nicht so schlimm kommen werde, selbst wenn Trump ins Weiße Haus zurückkehrte.

In gewisser Weise ist diese Hoffnung verständlich, denn der Eintritt des Worst-Case-Szenarios – Abwendung Amerikas von der NATO und dem Schicksal Europas – würde Fragen für Deutschland aufwerfen, gegen die das die Koalition schon auslastende Streitthema Kindergrundsicherung reiner Kinderkram ist.

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Abwarten und Tee trinken genügt aber nicht, wenn es um die nationale Sicherheit geht. Die NATO ist Deutschlands Lebensversicherung. Berlin muss alles in seiner Macht Stehende tun, um Amerika im Bündnis und in Europa zu halten. Dazu gehört eine deutliche Erhöhung des Verteidigungsetats, die der Angeber Trump dann gern als seinen Erfolg ausgeben dürfte. Dieser „Deal“ wäre aber auch für Berlin nicht schlecht. Denn es müsste noch viel mehr Geld für die Aufrüstung ausgeben, wenn die USA sich zurückzögen. Wie viel Sicherheit Deutschland sich damit erkaufen könnte, bliebe jedoch fraglich.

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In der NATO tickt eine Zeitbombe

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04.04.2024

Wenige Tage nach Ostern kann die NATO nicht nur ihren 75. Geburtstag feiern, sondern auch ihre Auferstehung von den Hirntoten und Obsoleten, zu denen sie noch vor wenigen Jahren ein französischer und ein amerikanischer Präsident gezählt hatten. Helle Freude über die Wiederbelebung, die sogar mit einer Vergrößerung einherging, kommt aber nicht einmal bei den treuesten Anhängern des atlantischen Verteidigungsbündnisses auf.

Denn es ist der schon seit zehn Jahren währende Krieg Russlands gegen die Ukraine, der die NATO aus ihrem Koma holte und ihr klarmachte, dass der Aggressor Putin auch eine akute Bedrohung für die Sicherheit ihrer Mitglieder ist.

Die Staaten des ehemaligen Ostblocks, die vor 20 und 25 Jahren aus freien Stücken dem Bündnis beitraten, hatten schon vor der Okkupation der Krim vor der Gefahr gewarnt, die im Osten heraufzog. Im Westen des Kontinents tat man das aber als Paranoia ab. Selbst als längst unübersehbar war, wes Ungeistes Kind Putin ist, galt in Deutschland noch das Axiom, Sicherheit in Europa sei nur „mit Russland“ zu erreichen – und Wohlstand nur mit russischem Gas. Dieser Träumerei setzte Putins Angriff auf die ganze Ukra­ine ein jähes Ende, wenn auch nicht in jedem einzelnen Fall, wie es Reflexe in der SPD........

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