Der Aufstieg des Wortes „selbsterklärend“ ist beunruhigend. Wie ein Gerät zu bedienen, eine Äußerung zu verstehen, ein Blick zu deuten sei – eben das sei im Zweifel selbsterklärend, lesen wir immer öfter. Aber erklärt sich etwas tatsächlich von selbst, ohne dass von Belang wäre, auf wen, auf welchen Adressaten die Erklärung trifft? Anders als das kolloquiale „selbstverständlich“ oder die launige Evidenzvermutung „kein Thema!“ kommt das hochtrabende, und doch zunehmend alltäglich gebrauchte „selbsterklärend“ mit der Aura eines erkenntnistheoretisch durchreflektierten Gütesiegels daher.

Wer eine Aussage als selbsterklärend bezeichnet, redet mit dem Anspruch eines abschließenden Vokabulars daher, das keine Frage offenlässt. Man stellt sich das begrifflich wie bei Gericht vor: Noch Fragen an den Zeugen? Keine weiteren Fragen, Euer Ehren! Im Konfliktfall ist jedoch nichts selbsterklärend, wie zumal juristische Auseinandersetzungen um Falschbehauptungen zeigen.

Dass etwas selbsterklärend sei, klingt denn auch wie eine totalitäre Formel, die Begriffsstutzigkeiten nicht gelten lässt und andere als die vermeintlich offensichtliche Auffassung unmöglich macht. Selbst sehr präzise Gebrauchsanweisungen erklären nichts so dicht, dass keine Lücken für Fragen offen blieben. Auch tadellos hergestellte Funktionsabläufe haben ohne nähere Bestimmung noch keinen Sinn. Ich weiß nun, dass Funktionsschritt zwei auf Funktionsschritt eins folgt, aber was bedeutet das?

Warum so viele Erlebensweisen ein und desselben Geräts, wenn es unter angeblich eindeutiger Anleitung dann tatsächlich in Gebrauch kommt? Das Problem der Erklärungslücke, das jede Erklärung aufreißt, verbietet Selbsterklärendes eigentlich von selbst. „Keine weiteren Fragen“ an den Zeugen zu haben, ist prozessrechtlich denn auch stets nur vorläufig zu verstehen, wie präzise auch immer die Aussage ausfällt. Präzision ist wie Konsequenz nicht selten eine Ausflucht der Dummen.

Darauf hat neulich wieder ein so kluger Mensch wie der Astrophysiker Heino Falcke aufmerksam gemacht, als er in Bern zusammen mit drei weiteren Wissenschaftlern den mit jeweils 750.000 Schweizer Franken bezifferten Balzan-Preis entgegennahm, einen der höchstdotierten Wissenschaftspreise überhaupt. Je präziser unsere Messungen geraten, desto mehr Fragen werfen sie auf, was ihren Geltungsbereich angeht, so Falckes Grundidee, die er in Bern dahingehend zuspitzte, dass die Astrophysik ohne ein Zusammenspiel mit der Philosophie dem Machbarkeitwahn ihrer Technologie aufsitze. Die großen Fragen des Woher und Wohin seien gerade nicht selbsterklärend, wie viel Präzision in den Messungen auch immer erreicht werde.

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Falcke wurde vorderhand geehrt „für hochauflösende Bilder von planetarischen Körpern bis zu kosmischen Objekten“, im Kern doch aber für seine hochauflösende Erkenntnistheorie, derzufolge sich kein Messungsergebnis von selbst erklärt.

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Eine totalitäre Formel macht sich breit

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04.12.2023

Der Aufstieg des Wortes „selbsterklärend“ ist beunruhigend. Wie ein Gerät zu bedienen, eine Äußerung zu verstehen, ein Blick zu deuten sei – eben das sei im Zweifel selbsterklärend, lesen wir immer öfter. Aber erklärt sich etwas tatsächlich von selbst, ohne dass von Belang wäre, auf wen, auf welchen Adressaten die Erklärung trifft? Anders als das kolloquiale „selbstverständlich“ oder die launige Evidenzvermutung „kein Thema!“ kommt das hochtrabende, und doch zunehmend alltäglich gebrauchte „selbsterklärend“ mit der Aura eines erkenntnistheoretisch durchreflektierten Gütesiegels daher.

Wer eine Aussage als selbsterklärend bezeichnet, redet mit dem Anspruch eines abschließenden Vokabulars daher, das keine Frage offenlässt. Man stellt sich das begrifflich wie bei Gericht........

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