Wenn man die Stellungnahme, welche die Freie Universität Berlin am Sonntag gepostet hat, beim Nennwert nehmen wollte, dann drohte dort, an der FU, Gewalt von beiden Seiten: Dann hätten sich jüdische, israelische und israelfreundliche Studenten zusammengeschlossen, um Hörsäle zu besetzen, propalästinensische Kommilitonen zu bedrohen und die Vertreibung der Palästinenser aus Palästina zu fordern.

Wie sonst sollte man die Aussage verstehen, wonach man „tief betroffen“ sei? „Die Freie Universität Berlin steht für Offenheit und Toleranz und distanziert sich von jeglicher Form von Hetze und Gewalt.“ Dieser Satz war die Reaktion nicht auf verschiedene Formen von Gewalt. Es gab nur einen Täter und nur ein Opfer, als am Freitagabend ein offenbar arabischer Student der FU seinen jüdischen Kommilitonen Lahav Shapira erst so brutal ins Gesicht schlug, dass der zu Boden stürzte, und dann den am Boden Liegenden so heftig mit den Füßen bearbeitete, dass der im Krankenhaus operiert werden musste. Gesichtsfrakturen, das war die Diagnose.

Der Bruder des Opfers, der Schriftsteller und Komiker Shahak Shapira, schrieb auf der Plattform X, es gehe ihm „o. k.“; und dass er das habe kommen sehen. Der Angreifer muss Lahav Shapira erkannt haben, was nicht verwunderlich wäre, schon weil Shapira zu den jüdischen Studenten an der FU gehört, die sich die Vernichtungsforderungen nicht gefallen lassen. Am 14. Dezember hatten Studenten, deren Haltung mit „propalästinensisch“ zurückhaltend beschrieben wäre, einen Hörsaal besetzt und die üblichen Parolen vom Genozid und der Befreiung ganz Palästinas gebrüllt. Shapira gehörte offenbar zu den wenigen jüdischen Studenten, die sich Zutritt zum Hörsaal verschaffen und den dort zelebrierten Israelhass bezeugen wollten, woran sie von den Aktivisten aber gehindert wurden.

In den sozialen Medien findet man einen Ausschnitt aus einem längeren Video, der wohl beweisen soll, dass die ganze Aktion friedlich war. Bis die bösen Juden kamen. Nach ein paar Stunden ließ die Universität den Hörsaal durch die Polizei räumen, wofür die Besetzer sich selbst als Freiheitskämpfer feierten. Erschrocken über die eigene Entschlossenheit, veröffentlichte die Universität danach ein Statement, in dem sie brav nicht nur den Antisemitismus, sondern jeden Rassismus verurteilte. Selten war Indifferenz einer Lüge so ähnlich.

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Ein bisschen Betroffenheit ist zu wenig

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05.02.2024

Wenn man die Stellungnahme, welche die Freie Universität Berlin am Sonntag gepostet hat, beim Nennwert nehmen wollte, dann drohte dort, an der FU, Gewalt von beiden Seiten: Dann hätten sich jüdische, israelische und israelfreundliche Studenten zusammengeschlossen, um Hörsäle zu besetzen, propalästinensische Kommilitonen zu bedrohen und die Vertreibung der Palästinenser aus Palästina zu fordern.

Wie sonst sollte man die Aussage verstehen, wonach man „tief betroffen“ sei? „Die Freie Universität Berlin steht für Offenheit und Toleranz und distanziert sich von jeglicher Form von Hetze und Gewalt.“ Dieser Satz war die Reaktion nicht auf verschiedene Formen von Gewalt. Es gab nur einen Täter und nur ein Opfer, als am Freitagabend........

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